Es gibt eine Weltgeschichte Spaniens, eine Weltgeschichte Englands, eine Weltgeschichte Frankreichs, eine Weltgeschichte Portugals und vielleicht auch eine Weltgeschichte Hollands. Was die Weltgeschichte der Deutschen angeht, darf des Historikers Höflichkeit für diesmal von ihr schweigen“, schrieb Peter Sloderdijk einst. „Dies trifft einfach nicht zu“, kommentiert der US-Literaturwissenschaftler und Germanist David Blackbourn diese Aussage. Auch die Deutschen, so Blackbourn, besitzen eine Weltgeschichte, und mit dem vorliegenden Tausendseitenwerk „Die Deutschen in der Welt“ macht er sich anheischig, diese These zu beweisen.
Aber was unterscheidet diese „Geschichte der Deutschen in der Welt“ von einer klassischen „deutschen Geschichte“? Es ist die umfassendere Perspektive, die weit über die bloße Nationalstaatsgeschichtsschreibung hinausgreift, um die geschichtsrelevanten Beiträge deutscher Söldner, Händler, Künstler, Wissenschaftler, Soldaten und Siedler auch weit jenseits der deutschen Grenzen mit in den Blick zu nehmen. Zweifellos ein ambitioniertes Projekt, das Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte mit der klassischen politischen Geschichte in einem internationalen Kontext bündelt.
Daß der Autor seine Geschichte der Deutschen mit dem 16. Jahrhundert beginnen läßt, verwundert allerdings und wird im Buch nicht wirklich überzeugend begründet. Immerhin spricht dafür der gewaltige Zeitenumbruch um 1500, in dem in der Epoche der Reformation und der Entdeckungsreisen die Tore der Welt weiter als jemals zuvor aufgestoßen wurden.
Die Deutschen verhalfen den Amerikanern zum Sieg
So gehören für Blackbourn die deutschen Musketiere und Kanoniere, die im Dienst der iberischen Könige Lateinamerika eroberten, die deutschen Jesuiten, die als Missionare in China wirkten, oder die Hessen, die in der Entscheidungsschlacht von Yorktown den US-Amerikanern zum Sieg über England verhalfen, ebenso zur deutschen Geschichte wie das berühmte Rhinozerosbild, das Albrecht Dürer für König Manuel von Portugal zeichnete.
In noch viel größerem Umfang gilt dies für die deutschen Auswanderer, etwa die Mennoniten, die im 17. Jahrhundert Pennsylvania besiedelten oder die Salzburger Exulanten, die nicht nur nach Preußen flohen, sondern sich unter britischer Regie auch in Nordirland ansiedelten – ganz zu schweigen von den über etwa 5,5 Millionen Deutschen, die im 19. Jahrhundert nach Nord- und Südamerika auswanderten und wesentlich zur infrastrukturellen Erschließung dieser Regionen beitrugen.
Gleichsam nebenbei werden bei diesem chronologisch verfahrenden Gang durch die Jahrhunderte auch die Grundzüge einer Geschichte der Auslandsdeutschen sichtbar. Dabei zeigt sich, daß die Deutschen, ähnlich wie Italiener oder Iren, in ihren „Germantowns“ durchaus Wert auf die Beibehaltung ihrer heimischen Kultur legten, aber in erheblich größerem Umfang als andere Nationen auch bereit waren, sich ihrer neuen Heimat zu assimilieren.
Deutsches Handwerk wird in die Welt exportiert
Geschichtsschreiberisches Neuland betritt der Autor, indem er nicht nur die Geschichte der Auslandsdeutschen, sondern auch die der „Inlandsausländer“ beleuchtet, das heißt jener Akteure, die als Übersetzer oder Reiseschriftsteller Deutschland in ihren Heimatländern bekannt machten, wie etwa Madame de Staël, die ihren Landsleuten in ihrem Buch „De l’Allemagne“ ein idealisiertes Deutsch-land präsentierte, oder Thomas Carlyle, der Tieck, Jean Paul und Goethe ins Englische übersetzte. Diese Brückenschläge vollzogen sich übrigens auch umgekehrt, wie die Shakespeare-Übersetzung durch August Schlegel bewies.
Diese Ausstrahlung der Deutschen nach außen ging mit ihrer Beeinflussung von außen einher. So wurde etwa ein großer Teil der Silber- und Kupferwaren, die in Westafrika gegen Sklaven getauscht wurden, in Deutschland erzeugt.
Die iberische Expansion nach Lateinamerika und später der atlantische Dreieckshandel wirkten wie ein gewaltiges Konjunkturprogramm für das deutsche Handwerk. Der dabei erwirtschaftete bescheidene Wohlstand stimulierte im nächsten Schritt eine Veränderungen der Konsumgewohnheiten durch die Verbreitung des Kaffee-, Tee- und Zuckergenusses.
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Wie moralisch war der alliierte Bombenkrieg?
Die Nachrichten von der amerikanischen und französischen Revolution, die nach Deutschland drangen, wurden zwar mit Interesse aufgenommen, aber lange Zeit durch die weit verbreitete Anhänglichkeit an die einheimischen Fürstenhäuser konterkariert. Ganz anders verhielt es sich mit der kulturellen Amerikanisierung, die nach dem Ersten Weltkrieg über das urbane Deutschland hereinbrach, wenngleich der Kulturimport aus Übersee auch starke Gegenbewegungen erzeugte.
Je mehr sich die Darstellung der Gegenwart nähert, desto größeren Raum nimmt die politische Geschichte ein. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der Aufstieg des Nationalsozialismus, die Besatzungszeit und die „Verdoppelung“ Deutschlands nach dem Zweien Weltkrieg in Gestalt der Bundesrepublik und der DDR werden ohne alle Einseitigkeiten ausgewogen und mit dem richtigen Sinn für Proportionen dargestellt.
Sogar an der moralischen Berechtigung des alliierten Bombenkrieges gegen die deutsche Zivilbevölkerung hegt der Autor seine Zweifel, ohne sie allerdings zu vertiefen. Auch von einem deutschen Sonderweg in den Nationalsozialismus will der Autor nichts wissen, eine besondere Brutalität der deutschen Kolonialgeschichte wird unter Hinweis auf französische oder britische Beispiele verneint.
Deutschland akzeptiert die dunklen Seiten seiner Geschichte
Am Ende seiner profunden Tour de force durch ein halbes Jahrtausend deutscher Weltgeschichte erwartet den Leser allerdings eine Überraschung. Im letzten Abschnitt, im dem der Autor seine Darstellung bis zum Jahr 2022 fortführt, begegnet der erstaunte Leser einem Deutschland „im Höhenflug“. Zwar kommt auch die Zuwanderung zur Sprache, aber fast ausschließlich in ihren positiven Aspekten, wofür Cem Özdemir als Modellintegrierter herhalten muß.
Auch der deutsche Fußball, so Blackbourn, profitiere von der Zuwanderung, denn 11 von 23 Spielern der Nationalmannschaft seien Ausländer – was bekanntlich in Katar wenig genutzt hat. Der Autor freut sich über die Katzenkrimis von Akif Pirincci und die Filme von Fatih Akin und erkennt in ihnen Beweise für eine sich anbahnende deutsch-türkische Kultursynthese.
Stolpersteine und Gedenkstätten wie das Holocaust-Mahnmal in Berlin beweisen ihm, daß Deutschland auch die dunklen Teile seiner Geschichte als Teil seiner Identität akzeptiert hat. Sicher mag es Probleme geben, schreibt Blackbourn, aber um ein Land, das siebenmal nacheinander auf den ersten Platz des internationalen „Good Country-Index“ gewählt wurde, kann es so schlecht nicht stehen.
Man kann sich wundern
Von außen betrachtet mag das vielleicht zutreffen. Aber ein fiktiver Deutscher, der 1990 am Frankfurter Hauptbahnhof eingeschlafen und im Jahre 2024 wieder aufgewacht wäre, würde dies wohl anders sehen.
Er würde sich über die sprunghafte Zunahme der Kriminalität und der maroden Infrastruktur, der Vernachlässigung des öffentlichen Raumes, den Ruin der staatlichen Kassen, den drohenden Zusammenbruch des Bildungswesens und die Kulturkämpfe auf den deutschen Straßen ebenso wundern wie über die Deindustrialisierung im Gefolge einer völlig abgedrehten Energiepolitik. Im Blackbourns Geschichte der Deutschen bleiben diese Krisensymptome gänzlich unterbelichtet. Das ist ein geradezu unverständlicher Mangel, der den Wert des ansonsten vorzüglichen Buches in Frage stellt.