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„Wir verlieren unsere Kinder!“: Was fehlende Medienkompetenz anrichtet

„Wir verlieren unsere Kinder!“: Was fehlende Medienkompetenz anrichtet

„Wir verlieren unsere Kinder!“: Was fehlende Medienkompetenz anrichtet

Medienkompetenz: Das Mobiltelefon haben Schüler immer zur Hand, aber was wissen die Eltern, was ihre Kinder da sehen?
Medienkompetenz: Das Mobiltelefon haben Schüler immer zur Hand, aber was wissen die Eltern, was ihre Kinder da sehen?
Das Mobiltelefon haben Schüler immer zur Hand, aber was wissen die Eltern, was ihre Kinder da sehen? Foto: picture alliance / Zoonar | Oksana Shufrych
„Wir verlieren unsere Kinder!“
 

Was fehlende Medienkompetenz anrichtet

Viele Eltern wollen lieber nicht wissen, was ihr Nachwuchs im Internet sieht. Eine Schulleiterin fordert jedoch: Seht hin, auch wenn es schwerfällt. Sie schildert in ihrem Buch, was fehlende Medienkompetenz für Schüler bedeutet und wie sie Abhilfe schaffen will. Eine Buchkritik.
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Sehr intime Aufnahmen einer Neuntkläßlerin, die jemand heimlich in einem Videotelefonat mitgeschnitten hat, landen plötzlich auf den Smartphones aller Schüler des Jahrgangs; Zwölfjährige, die sich selbst oder andere bei sogenannten Challenges gefährden und dabei filmen; Bilder und Videos von schweren Straftaten und harter Pornographie, die in Online-Netzwerken kursieren, werden von Minderjährigen angesehen und bedenkenlos weitergeleitet.

Es sind schockierende Fälle, die die niedersächsische Schulleiterin Silke Müller schildert. Mit ihrem in diesem Mai veröffentlichten Buch „Wir verlieren unsere Kinder! – Der verstörende Alltag im Klassen-Chat“ möchte sie aufrütteln und vor allem Eltern dazu aufrufen, hinzusehen und sich damit auseinanderzusetzen, was ihre Kinder im Internet sehen und tun. Die eingangs erwähnten Vorkommnisse sind leider nicht die ganz großen Ausnahmen. Das Buch stößt derzeit auf großes Interesse, die Autorin hat bereits einige Interviews dazu gegeben.

Silke Müller ist Schulleiterin der Waldschule Hatten (Landkreis Oldenburg) und wurde im Dezember 2021 zur ersten „Digitalbotschafterin“ in Niedersachsen ernannt. Ihre Schule setzt sich schon seit Jahren schwerpunktmäßig mit Digitalisierung und einem pädagogisch-didaktisch sinnvollen Umgang mit (Online-)Medien auseinander. Der für die Auszeichnung „Digitalbotschafterin“ zuständige Staatssekretär hatte sich vermutlich vorgestellt, daß Müller die in der Corona-Zeit politisch stark forcierte Agenda, die Schulen umfassend zu technisieren, einfach mit wohlwollendem Geplänkel begleiten würde. Stattdessen zieht die Schulleiterin eine schwer verdauliche Bilanz: „Wir müssen uns endlich eingestehen, daß wir zumindest in der digitalen Welt die Werte eines friedvollen Miteinanders verloren haben.“

Was ist eigentlich „Medienkompetenz“?

Während in bildungspolitischen Gremien weiterhin von „Medienkompetenz“ und „Medienethik“ halluziniert wird, nehmen Müllers sehr direkte Schilderungen den Leser mit in den Alltag von Schülerinnen und Schülern. Insbesondere thematisiert sie, wie stark Online-Netzwerke wie TikTok die Kinder und Jugendlichen beeinflussen. Nicht nur werden dort täglich verstörende Videos millionenfach angesehen, es werden auch selbstgemachte Aufnahmen blitzschnell auf die Plattform hochgeladen und verbreitet. „Suchen Sie doch bei TikTok selbst einmal nach dem Schlagwort Schultoiletten. Vermutlich wird es Ihnen die Sprache verschlagen bei dem, was man sich dort in abertausend Videos anschauen kann“, schreibt Müller.

Zwar betont sie, daß nicht die Digitalisierung schuld an den derzeitigen Verhältnissen sei, aber sie weist ebenso darauf hin, daß etwa eine moderne technische Ausstattung von Schulen noch keinen Wert an sich darstelle. Die genauen Ziele der digitalen Schulentwicklung seien bis heute unklar. Beispielsweise stehe eine echte Definition des Begriffs „Medienkompetenz“ nach wie vor aus.

Ihr Hauptkritikpunkt ist jedoch, daß viele Eltern keine Ahnung davon hätten, wie der Alltag ihrer Kinder wirklich aussehe. Um nicht hinschauen zu müssen, werde gesellschaftlich immer noch so getan, als gäbe es eine klare Trennung zwischen dem, was im Internet passiere, und dem „echten“ Leben. Dies sei eine Illusion, so Müller: „Medien gehören nicht nur zum Alltag, sondern sie sind der Alltag von Schülerinnen und Schülern.“ Damit müßten sich alle auseinandersetzen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben. An ihrer Schule geschehe das unter anderem über das Angebot einer „Social-Media-Sprechstunde“ sowie das Projektfach „Leben lernen“. Dadurch erhalte auch das Kollegium etwas mehr Einblick in die tatsächliche Lebenswelt der Schüler.

Schüler brauchen Grenzen

Sprachlich ist das Buch teilweise unbeholfen geschrieben. Es enthält einige Wiederholungen und selbst haarsträubende Fehler wurden vom Verlag nicht korrigiert. Dennoch muß man der Autorin zugute halten, daß hier eine Schulleiterin aufrütteln will, der es um die Sache geht und die den Mut hat, sich menschlich sehr nahbar und authentisch zu zeigen. Von der Dimension der Aufgabe, sich fast täglich mit derart schwierigen Fällen zu beschäftigen und sich dabei stets für das Wohl der jungen Menschen einzusetzen, machen sich viele Kritiker keinerlei Vorstellung.

Leider bleibt die Ursachenanalyse letztlich unbefriedigend. Müller, Jahrgang 1980, appelliert zwar an ihre eigene Generation, spricht an, daß auch viele Erwachsene kein gutes Beispiel abgäben und daß man wohl irgendwann „falsch abgebogen“ sei. Aber sie benennt nicht, daß viele Angehörige der jetzigen Elterngeneration, wie Caroline Sommerfeld es formuliert hat, „unfähig zur Erziehung sind, obwohl sie so dringend erziehen können wollen, mithin, daß sie an einem unerquicklichen historischen Endpunkt stehen, vor so manchem Scherbenhaufen mißglückter Experimente. Daß sie sich verheddert haben in der Paradoxie, ihre Kinder zu kontrollieren und sie im selben Maße sich völlig selbstbestimmen zu lassen“.

Die meisten Lehrer und Schulleiter kennen hilflose Eltern, die nie gesunde Grenzen gesetzt haben und nun Angst vor den narzißtischen Wutanfällen ihres Kindes haben. Wenn inzwischen – wie Müller erwähnt – fast jeder Fünftkläßler ein Smartphone besitzt und die wenigsten Kinder das Gerät vor dem Schlafengehen bei den Eltern abgeben müssen, dann liegt dieses Versäumnis eindeutig nicht aufseiten der Schulen. Das Buch „Wir verlieren unsere Kinder!“ ist wichtig, weil es ein grelles Licht auf den medialen Alltag von Kindern und Jugendlichen und auf das kollabierende System Schule wirft sowie eine längst überfällige Diskussion anstößt.

Das Mobiltelefon haben Schüler immer zur Hand, aber was wissen die Eltern, was ihre Kinder da sehen? Foto: picture alliance / Zoonar | Oksana Shufrych
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