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Marc Jongen, ESN Fraktion
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Fremdeln mit der Bundesrepublik

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Unwort, Umfrage, Alternativ

Walter Kempowski war sterbenskrank, als er sein Tagebuch aus dem Jahr 1991 für die Veröffentlichung redigierte. Der Titel „Somnia“ – Träume oder Trugbilder – verweist darauf, daß die äußere Welt (und darin vor allem: der bundesdeutsche Kulturbetrieb), an deren Ignoranz er stets schwer gelitten hatte, für ihn nun weniger belangvoll war. Im übrigen hatte der Konflikt sich zu seinen Gunsten entschieden. In einem Einschub von 2007 bezieht er sich auf die ihm gewidmete Ausstellung in der Akademie der Künste in Berlin, die der Bundespräsidenten höchstselbst eröffnet hatte: „So viele Menschen, denen auf einmal die Augen aufgehen.“ Man darf sich Kempowski, der oft verbittert daherkam, am Ende seines Lebens wohl als einen relativ glücklichen Mann vorstellen. Trotzdem – oder deshalb? – ist die publizierte „Somnia“-Fassung von allen Kempowski-Tagebüchern das bissigste.

1991 war ein Jahr des deutschen Mißvergnügens. Das Hochgefühl der Wiedervereinigung war verflogen, der Golfkrieg, der Putschversuch in der Sowjetunion, der Balkankonflikt überforderten die Urteilskraft sowohl des Durchschnittsbürgers als auch der politischen Klasse. Und vor allem traf die desaströse Hinterlassenschaft der DDR auf die Planlosigkeit der Bonner Politik, was eine ressentimentgeladene Gefühlsmischung ergab, die sich in der Hauptstadtdebatte entladen sollte.

Diese Ereignisse bilden den Hintergrund für Kempowskis Notate, die in der Summe eine loriotartige Sittengeschichte des dominanten linksliberalen Milieus der Bundesrepublik ergeben. In der Jury, die über den Osnabrücker Remarque-Preis befindet, ist er mit seinen Vorschlag – Fritz J. Raddatz – sofort „völlig isoliert“. Noch auf dem Weg zum Bahnhof lassen ihn die anderen vorauslaufen. „Man müßte diese Leute einfach mal fragen: ‚Sagen Sie mal, was liegt eigentlich gegen mich vor? Gibt’s Akten?'“ Man verübelte ihm, daß er – ein Opfer der stalinistischen Justiz und bekennender Antikommunist – mit seiner Person bezeugt, daß der Antifaschismus nicht automatisch das Gute darstellt. Als einen, der in keiner Regierungsform einfach „mitmacht“, treffen ihn die Mechanismen der sozialen Ausschließung, die seit dem Dritten Reich keineswegs überwunden, sondern bloß verfeinert und umgewidmet wurden. In seiner Heimatstadt Rostock kauft er sich eine Liste mit Stasi-Spitzeln und findet gleich auf der ersten Seite den Namen eines Klassenkameraden. „Im Krieg war er HJ-Führer. Er hatte eine sadistische Ader. Inzwischen ist er in Pension.“ Was wäre er in Westdeutschland geworden? Gewerkschaftsfunktionär, womöglich mit dem Schwerpunkt politische Bildung?

Dauerthema deutsche Geschichtsvergessenheit

Ein Dauerthema ist die deutsche Geschichtsvergessenheit. So fragt ein ZDF-Reporter während des Golfkrieges, wie die israelische Bevölkerung die täglichen Alarme aushielte. Kempowski: „Der Zweite Weltkrieg: Du meine Güte! Dresden, Hamburg, Köln (…) alles vergessen? Damals hatten wir sogar stündlich Alarm.“ Oder der damals aufsehenerregende Essay von Hans Magnus Enzensberger, dessen Hauptpointe im Vergleich von Saddam mit Hitler bestand, von dem die Deutschen immer gedacht hätten, er sei „absolut singuläres Ereignis“. Kempowski demontiert diesen falschen Tabubruch mit wenigen Worten: „Ja? Haben sie das?“ Er registriert, wie expressiver Gesinnungskitsch die politische Argumentation ersetzt: „Biermann gab sich recht leidend, er barmte in die Kamera, er müsse leider für den Krieg sein, dafür wurde er von Lea Rosh geküßt, was sie noch nie getan habe, wie sie sagte. Eine nicht geküßt habende Frau.“ Rosh war damals so etwas wie eine Meinungsführerin, Ihr hat Deutschland zu einem beträchtlichen Teil das Holocaust-Mahnmal in Berlin zu verdanken. Der Bürgerrechtler Jens Reich sagte nach dem Ende der DDR, als die ganze Jämmerlichkeit der SED-Führung brutal und unverhüllt zutage trat: „Von diesen Pfeifen haben wir Pfeifen uns mal regieren lassen!“

Als die Hauptstadtdebatte zugunsten von Bonn entschieden scheint, zürnt er: „Wenn das stimmt, werde ich Terrorist.“ Interessant, wie man sich im Leben zweimal trifft. Die SPD-Politikerin Ingrid Matthäus-Maier, die damals im Bundestag die strenge Haushälterin gab und strikt fiskalisch gegen Berlin argumentierte (Kempowski: „Die Bonn-Leute hatten was Kleinkariertes, Krämerhaftes“), zog Anfang des Monats wegen ihres Krisenmanagements bei der Mittelstandsbank IKB, die den Bundeshaushalt mit Milliarden belastet, die Konsequenz und trat zurück. In der ehemaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU), die unerlaubterweise ihrem Ehemann das Dienstauto zur Verfügung stellte, identifiziert Kempowski den Prototyp der provinziellen Moralsirene: „Irgendeine Dienstwagen-Angelegenheit, das ist die Mentalität von Volksschullehrern, die im Lehrerzimmer Kugelschreiber klauen.“ Und, mit sicherem Blick für ihr politisches Format: „Sie ist ja wohl auch ein kleines Dummchen, das wurde wieder mal offenbar in ihrem Verteidigungsgestotter. Trotzdem tut sie mir leid, aus der Solidarität der Medienverfolgten heraus.“

„Korrektiv der Presse“

So mokiert er sich denn auch darüber, in welcher Weise „das Korrektiv der Presse (…) wieder mal funktioniert“ hat. Die Medien arbeiten sich an Äußerlichkeiten statt an politischen Inhalten ab. Einige Monate später kommt Kempowski auf Rita Süssmuth zurück. Als sie die knappe Berlin-Entscheidung des Bundestag bekannt gab, „grinste (sie) dann auch einigermaßen debil (…). Sie selbst outete sich als Bonn-Tante. Da blieb ihr auch nur Grinsen übrig. Züchtet sie nicht Schafe in Ostfriesland?“

Die Meldung: „Bundesregierung hat den Kurden 400 Millionen spendiert“, läßt ihn darüber sinnieren, ob die sich dafür Fahrkarten nach Deutschland kaufen werden. Sechs Wochen später wird ihm in Bremen ein Hotel gezeigt, das mit Kurden belegt ist. „Jede Woche komme die Polizei, weil dies der Drogen-Mittelpunkt sei. Das heißt, sich eine Laus in den Pelz setzen.“ Einem Afrikaner, der wieder nach Hause fahren will, um dort allen zu erzählen, wie schlecht die Deutschen die Ausländer behandeln, ruft er hinterher: „Weiter so! Wunderbar. Dann werden sich seine Freunde hüten herzukommen.“ Aus diesen Sätzen spricht keine „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (mit dem Vokabular des sogenannten Konfliktforschers Wilhelm Heitmeyer), sondern „die kalte Wut über das 68er Intellektuellen-Pack“.

Kempowski bekennt, daß er mit den Wehrmachtsdeserteuren seine Schwierigkeiten hat, egal, ob sie zu den Russen oder den westlichen Alliierten übergelaufen sind, und er bezweifelt, daß man sie dafür loben solle. Es sei „wider die Natur“, anschließend auch noch gegen das eigene Land zu wirken. „Der Grund, weshalb ich ihnen mißtraue, liegt im Vorteildenken. Ich nehme ihnen nicht ab, daß sie es aus politischen Gründen getan haben.“

Weil dieses Vorteildenken zum Kernstück der Staatsbürgerräson geworden ist, verwundert es nicht, daß Kempowski die Bundesrepublik über die Wiedervereinigung hinaus überwiegend fremd geblieben ist. Das Tagebuch ist – trotz versöhnlicher Einschübe – ein Dokument dieser Fremdheit.

Walter Kempowski: Somnia. Tagebuch 1991. Albrecht Knaus Verlag, München 2008, gebunden, 543 Seiten, Abbildungen, 24,95 Euro

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