Links gegen rechts. Zwei Intellektuelle mit gegensätzlichen Ansichten treffen aufeinander und debattieren über Grundsatzfragen. Heute weniger selbstverständlich als in den 1960ern, als Hunderttausende den Hörfunkdebatten zwischen Theodor Adorno und Arnold Gehlen zugehört hatten. Der eine war ein jüdischer Alt-Exilant und Mitgründer der Frankfurter Schule, der andere ein konservativer Anthropologe mit NS-Vergangenheit. Sechs Jahrzehnte später, am Dienstag abend im Schloß Ettersburg bei Weimar, diskutiert der Kultursoziologe und Ex-Redakteur der Jungen Welt, Thomas Wagner, mit dem JF-Autor und Historiker Karlheinz Weißmann vor rund 40 Zuhörern über den Geist von damals.
Hier, im schneeweißen, mit fürstlichen Ornamenten beschmückten Schloßsaal, bringt Wagner mit den Auszügen aus seinem jüngsten Buch „Abenteuer der Moderne“ diesen Geist näher. „Ich möchte jenen, die es nicht kennen, die Gelegenheit geben, etwas von der Atmosphäre mitzunehmen.“ Und das tun die Anwesenden, still und konzentriert. So nennt er etwa die Versuche des DDR-Philosophen Wolfgang Harich, Gehlens anthropologische Erkenntnisse mit dem Marxismus zu vereinbaren und den intensiven Briefaustausch der beiden. Oder ein Besuch der Gehlens bei der Familie Adornos nur wenige Jahre, nachdem Letzterer die Berufung des bekannten Anthropologen nach Heidelberg mitverhinderte.

„Als marxistischer Wissenschaftler hatte man es schwer“
Diese Diskussionsbereitschaft sei laut Weißmann bis in die 1980er Jahre vorhanden gewesen. „Damals wäre niemand auf die Idee gekommen, ‘schwarze Listen’ von Verlagen zu erstellen, die auf der Frankfurter Buchmesse nicht sein dürften.“ Er erinnert sich an die eigenen Auseinandersetzungen in seiner Jugend, die er als „hart, durchaus auch verletzend“ empfunden hätte. „Aber es war niemals so, daß irgendeiner bestritt, daß der andere diese Position grundsätzlich haben konnte.“ Erst mit dem Historikerstreit 1987 sei diese Haltung verschwunden.
„Als marxistischer Wissenschaftler hatte man es schwer“, erwidert Wagner mit Bezug auf die Adenauer-Ära. Daß sich Adorno zusammen mit anderen Vertretern der Frankfurter Schule verstärkt auf Hegel statt auf Marx berufen hätte, zeige, daß man sich nicht als Anhänger einer als „staatsfeindlich“ geltenden Ideologie zu erkennen geben wollte. „Möglicherweise waren die 1970er und Anfang 1980er deshalb noch die Zeit, in der ein relativ pluralistisches Meinungsbild zelebriert wurde, weil bestimmte Strömungen (…) auf einmal präsent waren – nämlich die Marxisten.“
Demnach half Adorno und Gehlen auch, daß die junge Bundesrepublik händeringend Soziologen brauchte. Wegen des Ausmaßes der Zerstörungen oder „großer Bevölkerungswanderungen“ – mitten im letzten Wort macht Wagner eine kurze Denkpause – habe es eine Nachfrage nach Daten gegeben. „Und da brauchte es auch den Sachverstand von Leuten, die schon im Nationalsozialismus bei bevölkerungspolitischen Fragen vom Fach waren.“ Weißmann ergänzt, Demoskopie sei „immer“ ein Herrschaftsinstrument gewesen.
Bei Institutionen scheiden sich die Geister

Obwohl das Publikum an diesem Abend mit vielen prägenden Namen konfrontiert wird – Max Horkheimer, Jürgen Habermas, Helmut Schelsky, Helmuth Plessner et cetera –, dreht sich die Debatte vor allem um Adornos bekanntesten Gegenspieler. Dabei darf Gehlens 1940 erschienenes Werk „Der Mensch“ nicht fehlen. Weißmann erinnert an Gehlens These vom Menschen als „Mängelwesen“, dessen Körper wegen mangelnder „Spezialisierung“ nicht auszureichen scheint, um sich im Überlebenskampf durchzusetzen. „Damit stand seine Auffassung natürlich quer zu dem, was von den Nationalsozialisten gewünscht war.“
Wagner fokussiert sich lieber auf die menschliche Seite Gehlens. „Er war ja nicht sehr streitlustig. Wenn er gestritten hat, wirkte er eher verbittert und sarkastisch.“ Auch versucht der Soziologe, Gehlens DDR-Brieffreund Harich verstärkt in den Vordergrund zu rücken. Dieser habe eine „ansteckende Begeisterungsfähigkeit“ gehabt und sei mit dem Kulturleben im Westen wie im Osten vertraut. „Sie hatten sich was auf der Theorieebene zu sagen.“ Demnach erleichterte auch der ihnen gemeinsame bildungsbürgerliche Hintergrund den Austausch.
Dann kommt Wagner doch noch auf Gehlens Institutionenlehre zu sprechen, wonach stabile Institutionen mit ihrer eigenen Ethik die wichtigsten Ordnungsfaktoren für den Menschen seien. „Er war sich durch sein frühes Studium der ethnologischen Schriften von Claude Lévi-Strauss darüber im Klaren, daß es auf egalitärer Ebene auch Ordnungsleistungen gibt, die auch stabil sein können und auf größere Gruppen zutreffen. Das war für mich interessant.“ Weißmann gibt Kontra. „Was es geben kann, ist, daß man unter sehr komfortablen und erfreulichen Umständen die innere Ordnung so weit entlasten kann, daß man sagt, der permanente Zwang muß nicht aufrechterhalten werden.“
„Das ist Gehlen, ohne ihn beim Namen zu nennen“
Der pensionierte Lehrer erinnert dabei auch an seine Studienzeit. „Ich habe freiwillig ein sechswöchiges Praktikum an der Laborschule in Göttingen gemacht, einer integrierten Gesamtschule. Es war erschütternd, was sich da abgespielt hat.“ Ein Grund: ein viel zu optimistisches Menschenbild fernab der Anthropologie. „Und es war im Grunde genommen keine Institution – das Ganze konnte nur funktionieren, weil man es von allen Seiten finanziell pamperte.“ Gleichwohl betonte Weißmann, ein Kind der sozialdemokratischen Bildungsexpansion gewesen zu sein. „Das haben die jetzt davon.“ Gelächter im Saal.
Doch welchen Einfluß hat Gehlen auf die heutige Zeit? Weißmann erinnert an eine Rede des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, in der er klargestellt habe, die Zivilgesellschaft könne nichts ohne starke Institutionen. „Und diese Art, eine Institution zu feiern, ist im Grunde genommen Gehlen, ohne ihn zu nennen.“