Von Ferdinand Lassalle stammt die Unterscheidung zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit – dem, was geschrieben steht in einem Staatsgrundgesetz, und dem, was tatsächlich gilt, der normativen Ordnung und den faktischen Machtverhältnissen. Was seinen Blick für diesen Zusammenhang schärfte, war seine Stellung als Oppositioneller.
Er wußte, daß – ganz gleich, was die Verfassung sagte – seine Möglichkeit, in der Gesellschaft zu existieren, Einfluß zu nehmen, Anerkennung zu gewinnen, um ökonomische oder politische Chancen zu konkurrieren, scharf begrenzt war durch das Interesse der Herrschenden, ihre Stellung zu erhalten, sich die Prämie auf Machtbesitz zunutze zu machen, das heißt auch alle informellen Möglichkeiten der Einflußnahme auszuschöpfen, damit die Institutionen in ihrem Sinn arbeiteten, geeignetes Personal rekrutiert wurde, Mittel zugewiesen oder zurückgehalten, Privilegien erteilt oder verweigert werden konnten.
Verglichen mit dem Preußen des 19. Jahrhunderts ist unser Gemeinwesen ein viel komplexeres Gebilde, aber an der von Lassalle getroffenen Unterscheidung ändert das nichts. Auch bei uns sind Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit getrennte Größen. Gilt etwa nach dem Verfassungstext ein Recht auf freie Meinung und freie Meinungsäußerung, Rede- und Lehrfreiheit, werden diese Freiheitsrechte aber in der Verfassungswirklichkeit dauernd eingeschränkt, nicht nur in der üblichen Weise (etwa durch das rechtliche Verbot von Beleidigungen etc.), sondern auch durch Sondergesetze, die ganz bestimmte Meinungen – und nur diese – mit Strafe bedrohen.
Keine rechtlichen, aber trotzdem wirksame Sanktionierungen
Vor allem aber werden sie eingeschränkt durch eine Menge informeller Einflußnahmen, ein Zusammenspiel von offiziellen, halboffiziellen und „zivilgesellschaftlichen“ Größen, die zwar keine rechtlichen, aber trotzdem wirksame Sanktionierungen durchsetzen, um Widerspenstige zu disziplinieren, sie auszugrenzen und mit sozialer Ächtung zu bedrohen und die fallweise zu realisieren.
Man kann diese besondere Art von Kooperation gegenwärtig am Beispiel von einigen Hochschullehrern illustrieren, die lediglich durch die Wahrnehmung ihres grundgesetzlich verankerten Rechts auf Meinungs- und Meinungsäußerungsfreiheit in eine prekäre Situation geraten sind. Es gibt viele Aspekte, in denen sich diese „Fälle“ unterscheiden, auch einen erheblichen Unterschied in bezug auf die Schwere der Konsequenzen, die man ihnen androht.
Aber im Kern handelt es sich darum, daß ihnen ein wohlverbrieftes Recht genommen werden soll – und die Aussicht auf ein Gelingen dieser Absicht besteht, weil die Machtverhältnisse in diesem Land so sind, wie sie sind. Das heißt, man darf in der Administration und in der politischen Führung eine gewisse Zahl von Verantwortlichen vermuten, die ihre Möglichkeiten im Zweifel gegen sie nutzen werden.
Und es gibt für dieses Vorgehen in der Öffentlichkeit nicht nur Hinnahme-, sondern auch Zustimmungsbereitschaft. Denn mehr oder weniger starke pressure groups, die tun, was solche Gruppen tun, nämlich Druck aufbauen, schaffen durch Agitation und Demonstration eine Atmosphäre, die die Verantwortlichen wie die desinteressierte Masse in der Auffassung bestärkt, was geschehe, geschehe zu Recht.
Zwar sind die Verhältnisse in der Bundesrepublik nicht so, daß es keine Aussicht gibt, sich dagegen zu wehren. Aber durch einen vorschnellen Hinweis auf die juristische Möglichkeit wird von der eigentlich politischen Dimension der Vorgänge abgelenkt. Die ist dadurch bestimmt, daß in den vergangenen vier Jahrzehnten ein dramatischer Wandel der Verfassungswirklichkeit stattgefunden hat. In manchem geht er so weit, daß die Väter des Grundgesetzes die gesellschaftliche Realität, die da entstehen konnte, kaum noch als die von ihnen gewünschte wiedererkennen würden.
Die Profiteure dieser Veränderung haben sich nicht nur alle möglichen staatlichen Machtinstrumente angeeignet, die sie ursprünglich als Mittel der „Repression“ bekämpften – vom Verfassungsschutz bis zum obrigkeitsstaatlichen Verbot der Volksverhetzung –, sie haben vor allem auch systematisch die Bevölkerungsgruppen entmutigt, sich zur Wehr zu setzen, die der Entwicklung von Hause aus mit Skepsis gegenüberstanden.
Keine Unterstützung aus dem bürgerlichen Lager
Ein bis in die siebziger Jahre feststellbares, dynamisches Gleichgewicht zwischen einer „Linken“ und einer „Rechten“ ist komplett beseitigt worden und hat einem Zusammenspiel der „Linken“ und der „Mitte“ Platz gemacht – wobei die „Mitte“ zufrieden ist, wenn ihr der ökonomische Zugriff erhalten bleibt, so daß sie der „Linken“ alles andere ausliefert, vor allem die Gestaltung und Kontrolle jenes Teils der Verfassungswirklichkeit, der für die herrschenden Überzeugungen von Belang ist.
Aus dieser Konstellation erklärt sich, warum konservative Hochschullehrer keine Unterstützung aus dem bürgerlichen Lager erwarten dürfen. Sie fallen demselben Verhaltensmuster zum Opfer wie viele vor ihnen, weil das dem Interesse der „Mitte“ dient, die am historischen Kompromiß mit der Linken nicht rühren will.
Die Beziehung zwischen Macht und Freiheit ist elementar. Denn Freiheit ergibt sich nicht von selbst, sie ist nicht da, weil ihre Wünschbarkeit postuliert wird. Sie folgt auch nicht einfach daraus, daß sie in den Grundrechten auftaucht. Sie entsteht im politischen Raum aus dem Gegeneinander von Machtgruppen, die sich Einfluß verschaffen und damit Gestaltungsspielräume für ihre Anhänger.
Wer keine Macht hat, kann bestenfalls auf Duldung hoffen, nicht auf Freiheit. Wer Freiheit will, muß bereit sein, sie zu erkämpfen. Der Sozialist Lassalle hatte das verstanden und gibt einen guten Lehrmeister ab, und der Aufstieg des Sozialismus aus der Position des Verfolgten und Machtlosen kann als Lektion dafür dienen, daß der Zusammenhang von Macht und Freiheit nicht ein für allemal festzulegen ist.
> Interview mit Jost Bauch: „Steckbrief an jeder Wand“
JF 8/10