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Literaturkritik: Erzählungen eines Cyborgs

Literaturkritik: Erzählungen eines Cyborgs

Literaturkritik: Erzählungen eines Cyborgs

Menschenmenge in Panik flieht vor einer bedrohlich wirkenden, bläulich leuchtenden Maschinenmasse; im Vordergrund verzerrte Gesichter, weinende Frauen, ein Kind, im Hintergrund ein grellroter Gebäudeteil mit weißer Tür. Was bleibt vom Ich, wenn Maschinen erinnern? Jonas Lüschers „Verzauberte Vorbestimmung“ folgt einem Cyborg-Erzähler auf seiner Suche nach Sinn, Struktur und erzählerischem Halt. Peter Weiss: „Die Maschinen greifen die Menschen an“ (1935), bearbeitet. Bildquelle: Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 3.0
Menschenmenge in Panik flieht vor einer bedrohlich wirkenden, bläulich leuchtenden Maschinenmasse; im Vordergrund verzerrte Gesichter, weinende Frauen, ein Kind, im Hintergrund ein grellroter Gebäudeteil mit weißer Tür. Was bleibt vom Ich, wenn Maschinen erinnern? Jonas Lüschers „Verzauberte Vorbestimmung“ folgt einem Cyborg-Erzähler auf seiner Suche nach Sinn, Struktur und erzählerischem Halt. Peter Weiss: „Die Maschinen greifen die Menschen an“ (1935), bearbeitet. Bildquelle: Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 3.0
Peter Weiss: „Die Maschinen greifen die Menschen an“ (1935), bearbeitet. Foto: Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 3.0
Literaturkritik
 

Erzählungen eines Cyborgs

Was bleibt vom Ich, wenn Maschinen erinnern? Jonas Lüschers „Verzauberte Vorbestimmung“ folgt einem Cyborg-Erzähler auf seiner Suche nach Sinn, Struktur und erzählerischem Halt.
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Die megalomanische Arts and Culture City wurde in den 2020er Jahren in den Wüstenboden nahe Kairo gestampft. Heute ist sie verlassen, betreut nur noch von einem Systemadministrator, der die Technik mehr oder weniger am Laufen hält, sowie der Archivarin Tari. Sie verbringt ihre Tage in einem geheimen unterirdischen Archiv, dessen Ausmaße an die Cheopspyramide erinnern und das angefüllt ist mit noch unbearbeitetem Material. Tari ordnet, archiviert. Doch längst nicht mehr nach einem auf Herkunft und Zeit basierenden Provenienzprinzip, sondern nach Pertinenz, also nach Themen wie Personen und Orten. Das Archiv wird zu einem Materiallager für die individuellen Erzählungen der Archivarin, ein Palast zufällig gewählter Verknüpfungen.

Ein Archiv der Zukunft, das dem Leser von Jonas Lüschers „Verzauberte Vorbestimmung“ erst gegen Ende vorgestellt wird, das aber einen erhellenden Hinweis auf den Aufbau des Romans gibt. Denn auch hier entsteht kein klarer Handlungsstrang, sondern eine Abfolge von Koinzidenzen. So mäandert der Roman zwischen Orten und Personen, versetzt den Leser in Zeit- und Realitätssprünge und verknüpft auf den ersten Blick unabhängig voneinander existierende Inseln verschiedener Erzählungen. Als roter Faden durch diesen Kosmos dient einzig der Erzähler, der aber schon auf den ersten Seiten des Buches als ein – gemäß der Literaturtheorie – unzuverlässiger eingeführt wird. Kein Halt also, nirgends.

Wohl und Wehe des technischen Fortschritts

Der Roman beginnt mit einer Skizze aus dem Ersten Weltkrieg; Ypern 1915: Ein junger Mann ohne Zukunftsperspektive hatte sich in Algerien anwerben lassen, um für Frankreich in den Krieg zu ziehen. Nun findet er sich auf dem von Blut und Körperteilen morastig gewordenen flandrischen Schlachtfeld wieder, bedroht von einer grünlichen Wolke Giftgas: „Dann ein einzelner klarer Gedanke: Nicht mit ihm. Nicht Teil dieser Maschinerie sein.“ Es folgt die ebenso wahre wie banale Erkenntnis „Einer mußte damit aufhören.“ Was selbstredend nicht geschieht.

Dank seiner geschädigten Lunge überlebt der Algerier den Krieg und wird Postbote in Lyon. Über einen kleinen Umweg führt dies zu einem anderen Postboten namens Cheval, der um 1900 im südfranzösischen Hauterives im Dienst gesammelte Steine in 30jähriger Handarbeit zu einem naiv-monströsen Traumschloß, dem „Palais Idéal“, zusammenfügte. Eine Ausgeburt der Phantasie, die der deutsch-schwedische Autor Peter Weiss 1960 aufsuchte; dem Jahr, in dem er sich nach persönlichen wie künstlerischen Krisen als Schriftsteller etablierte. Und auf dessen Pfaden nun der Autor Jonas Lüscher wie auch sein Erzähler – die man durchaus als eine Personalunion verstehen darf – in „Verzauberte Vorbestimmung“ wandeln.

Den Roman „Verzauberte Vorbestimmung“ von Jonas Lüscher jetzt im JF-Buchdienst bestellen.

Denn auch der Erzähler befindet sich in einer Phase der Neubestimmung: Während der „Pandemie“ schwer erkrankt, war er wochenlang in ein künstliches Koma versetzt worden, angeschlossen an „nahezu jede erdenkliche Maschine“ aus dem Arsenal der Spitzenmedizin. Von ihrem störungsfreien Funktionieren allein hing sein Leben ab; „mehr Cyborg war kaum möglich“. Im nachhinein erscheinen dem Genesenen seine von Psychopharmaka beeinflußten Koma-Halluzinationen als überaus real; sie haben sich zu wahren Erlebnisräumen verdichtet, sind Teil seines persönlichen Erinnerungsarchivs geworden.

Maschinen, die retten – und zerstören

Ein Schelm, wer dabei an die Filme der Matrix-Trilogie denkt – Lüscher zumindest zieht diese Verbindung eher nicht. Dennoch bewegt sich der Roman zwischen den Polen von Wohl und Wehe des technischen Fortschritts: Maschinen können Menschen retten, doch sind sie auch eine Gefahr, wie Peter Weiss in seinem 1935 entstandenen Gemälde „Die Maschinen greifen die Menschen an“ darstellt. Als Sohn eines Textilfabrikanten wuchs Weiss in Varnsdorf auf, einst als das böhmische Manchester bekannt, heute „eine Art Modellstadt für den postindustriellen Verfall“. Im Roman fällt der Erzähler hier zurück ins 19. Jahrhundert und erlebt wie in einem Fiebertraum den Aufstand der Weber, die im Gefolge Ned Ludds in einem maschinenstürmenden Furor um den Erhalt ihrer Existenz kämpfen.

Statt in die stark verkürzte Gleichung „technischer Fortschritt + Kapital = Armut und Unterdrückung“ abzugleiten, führt Lüscher einen ganz und gar nicht primitivistischen Weber ein: Obgleich die Dampfmaschine sein handwerkliches Können, mithin seine Existenz und nicht zuletzt kulturelle Tradition bedroht, erkennt er die janusköpfige Gestalt des Fortschritts mit seiner zugleich zerstörerischen wie auch schöpferischen Kraft an. Beim ersten Anblick eines Fliehkraftreglers (eine Einrichtung zur Regulierung der Dampfzufuhr für eine konstante Drehzahl) habe ihn eine tiefe Erschütterung ergriffen, „es war ihm gewesen, als sehe er Gottes Wirken selbst zu, aber in Gestalt einer vom Menschen gebauten Maschine, und das schien ihm einen Durchlaß zwischen zwei Ordnungen zu öffnen, die er bislang für alle Zeiten für voneinander getrennt gehalten hatte“.

Erzählen als Selbstvergewisserung

Dieser Weber ist übrigens des Lesens – und, wichtiger noch: des Erzählens – mächtig: „Eigentlich, so mußte er sich eingestehen, erzählte er, um selbst zu verstehen, oder besser noch, um sein eigenes Nachdenken zu formen.“ Denn, so sein Gedanke, wenn er die Ereignisse in eine sinnvolle Reihenfolge bringen könnte, erhalte er womöglich die Kontrolle über den Fortgang der Geschichte.

Ein Gedanke, der womöglich auch Jonas Lüscher antrieb – wenngleich mit gebotener Skepsis. Aus seinen unterschiedlichen Erzählsträngen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ebenso wie aus Realität und Komatraum läßt er ein Gewebe mit höchst komplexem, immer wieder auch changierendem Muster entstehen – das zugegebenermaßen dann und wann etwas ausfranst wie in der Episode mit dem „Palais Idéal“ des Postboten Cheval. Mit Verve bedient sich der Autor des Stilmittels des unzuverlässigen Erzählens und läßt an keiner Stelle belastbare Bekundungen oder gar feste Standpunkte aufkommen. Kein oder doch nur wenig Halt für den Leser, dem auf der Reise durch diesen Roman mit seinen zahlreichen narrativen Sprüngen einiges abverlangt wird.

Und dennoch: Schon Lüschers brillante Sprache – die er zuletzt 2017 mit seinem von unterschiedlichen Seiten gelobten Roman „Kraft“ unter Beweis stellte – ist der Mühe wert, ebenso wie das Feuerwerk der erzählerischen Verknüpfungen. Aus seiner stets ambivalent gehaltenen Technikkritik, die ein Leitmotiv des Romans bildet, klammert Lüscher Fragen zum Thema Biotechnologie allerdings weitestgehend aus, ebenso den Begriff „Covid“. Möglicherweise ein beredtes Schweigen, doch: In einem nach Themen geordneten Erinnerungsarchiv folgt ein jeder seinen eigenen Assoziationen.

Kann auch die Maschine erzählen?

So wird das Erzählen zum zweiten Leitmotiv des Romans. Wie auch Peter Weiss bedient sich Jonas Lüscher einer Verbindung von realitätsnaher Recherche und poetischer Vision, um aus diesen widersprüchlichen Blickwinkeln zu einer Erkundung des Ichs zu gelangen – eines narrativen, vielleicht auch realen Ichs. Erzählen heißt immer auch, das Chaos zu strukturieren, thematische Aspekte hervorzuheben oder auszulassen. Können auch Maschinen erzählen?

Mit dem Buchtitel „Verzauberte Vorbestimmung“ referiert Lüscher nicht zuletzt auf den Begriff des „enchanted determinism“: Die Idee besagt, daß Künstliche Intelligenz – obgleich sie zweifellos deterministisch agiert, also vorhersehbaren Regeln und Algorithmen folgt – zuweilen auf komplexe Weise unerwartete Ergebnisse generieren könne. Was wiederum den Eindruck von Intuition und Kreativität, mithin Schöpferkraft hervorrufen kann.

Ein Gedächtnis, das vergessen will

Dies führt zurück ins Ägypten der Zukunft, wo Tari an ihrem nun archaisch gewordenen Archiv aus Papier und Fotos festhält. Die in ihrer Zeit übliche Lebensform ist allerdings die der „Angeschlossenen“; menschliche Cyborgs, die über eine weltumspannende Netzwerktechnologie verbunden sind und alles Wissen, alle Erfahrungen miteinander teilen – permanent und in Echtzeit (was einigen von ihnen, besonders Kindern, bereits den Verstand geraubt hat).

Doch in einer Welt, in der jeder mit jedem verbunden ist, jede Erfahrung nicht nur für alle transparent ist, sondern unmittelbar geteilt wird, gibt es kein individuelles Erleben und damit keine Notwendigkeit mehr für das Erzählen. Mithin für das Ordnen der ureigenen Gedanken. Nichts wünsche sie sich daher mehr, so die „Angeschlossene“ Kate, als eine „massive Tür, die sie schließen könne, um dahinter das Wissen der Welt“ zu vergessen.

Aus der JF-Ausgabe 20/25.

Peter Weiss: „Die Maschinen greifen die Menschen an“ (1935), bearbeitet. Foto: Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 3.0
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