Am Gründonnerstag kommt, zwanzig Jahre nach seiner Erstaufführung, Mel Gibsons extravagante Version der Passionsgeschichte wieder in die Kinos. Der Film sorgte 2004 für Schlagzeilen. Zum einen hatte der durch die Endzeitfilme der „Mad Max“-Reihe berühmt gewordene Schauspieler ein hochgradig provokantes Filmexperiment gewagt, indem er seine Jesus-Geschichte in Originalsprachen erzählte, seine Figuren also in Lateinisch, Hebräisch und Aramäisch reden ließ; zum anderen wurde der Film trotz des abschreckenden Konzepts zum sensationellen Kassenhit.
Interessante Dublette: Im vergangenen Jahr wurde erneut ein Film mit christlicher Botschaft zum Überraschungserfolg: „Sound of Freedom“. Die Hauptrolle in dem Drama über sexuellen Mißbrauch an Kindern spielte wie in „Die Passion Christi“ der bekennende Christ Jim Caviezel.
Der 1956 im Bundesstaat New York zur Welt gekommene Gibson, der schon für „Braveheart“ (1995) selbst im Regiestuhl Platz genommen und dafür gleich einen Oscar gewonnen hatte, schuf einen Jesus-Film, der sich im Vergleich zu seinen Vorgängern durch eine so noch nicht gesehene Brutalität auszeichnete und die Zuschauer durch die exzessive Darstellung physischer Gewalt verstörte. Prompt wurde dem Regisseur eine antisemitische Botschaft unterstellt.
Tief schneiden sich Geißelhiebe in die entblößte Haut des Gemarterten
Der Film, der sich auf Jesu letzte zwölf Stunden in Jerusalem konzentriert, nimmt seinen eigenen Titel durchaus wörtlich und zeigt das Martyrium des leidenden Gottesknechts als nicht enden wollende Abfolge von Folterqualen. Tief schneiden sich Geißelhiebe und die Dornenkrone, die dem König der Juden aufgesetzt wird, in die entblößte Haut des Gemarterten. Kein blutiges Detail wird ausgespart, keine Erniedrigung ausgelassen. Als sich die Nägel in die Hände und Füße des Nazareners bohren, ist die Kamera dicht dabei. Jesus leidet, Jesus schreit. Der Zuschauer ist gezwungen zum Mitleiden wie bei keinem Bibelfilm zuvor.
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Die Vorgehensweise des Regisseurs hat Methode. Gibson selbst hatte in einem Interview erklärt, er habe die gewaltige „Größe des Opfers“ Christi, des göttlichen Erlösers, zeigen wollen. Die Passion sollte den Menschen derart unter die Haut gehen, daß sie endlich begriffen, daß es das Übermaß menschlicher Verfehlungen ist, auch ihrer eigenen, das im Leiden und Sterben Jesu gesühnt wird, und daß dies keine Kleinigkeit war.
Damit stieß der Australier vor in das Herz der christlichen Verkündigung: den stellvertretenden Tod Jesu am Kreuz als „Lösegeld für viele“ (Markus 10,45). Für Theologen ist dabei vor allem der Rekurs auf Jesaja 53 von entscheidender Bedeutung. Der Prophet aus dem Alten Testament beschreibt darin die Leiden des Gottesknechts für „die Sünde der Vielen“. Das Urchristentum bezog diese Bibelstelle auf Jesus. Im 8. Kapitel der Apostelgeschichte erläutert der Apostel Philippus einem hohen äthiopischen Hofbeamten, der sich in Jerusalem eine Schriftrolle gekauft hat, den Passus.
Briefe an die Zeitgenossen von Jesus
Auch der Apostel Paulus, Cheftheologe der frühen Christenheit, rekurriert darauf in seinem geistlichen Grundsatzwerk, dem Römerbrief. Die Schlußverse des vierten Kapitels nehmen, zum Teil wörtlich, Bezug auf die Prophetie des Jesaja.
Unter dem Einfluß bibelkritischer Theologen wie Rudolf Bultmann und Martin Dibelius, die den Verkündigungszweck von der historischen Wahrheit separierten, kamen Zweifel auf an der Darstellung der Evangelien. War das biblische Zeugnis wirklich glaubwürdig? Oder drückten sich hier nur Glaubensüberzeugungen und Mythen aus, die es mit der historischen Wahrheit nicht so genau nahmen, sondern neue, geistliche Wahrheiten schufen, die zwar subjektiv richtig waren, aber objektiv Erfindungen?
Andererseits belegen vor allem die Briefe des Paulus, die ältesten Schriften des Neuen Testaments, aber auch die Evangelien und die Apostelgeschichte die Historizität von Tod und Auferstehung Jesu besser, als man es von vielen anderen Ereignissen der Antike behaupten kann. Entscheidend für diese nicht theologische, sondern geschichtswissenschaftliche Sicht auf die Passion Christi ist, daß Paulus seine Briefe an ein Publikum richtete, das mindestens teilweise aus Zeitgenossen des historischen Jesus bestand und daß viele Augenzeugen der Passions- und Ostergeschichte noch am Leben waren, als diese Briefe, die rasch zu christlicher Instruktions- und Erbauungsliteratur mit autoritärem Charakter wurden, in Umlauf kamen.
Jesus brach mit dem Opferkult
Im 15. Kapitel des ersten Briefs an die Gemeinde in Korinth, dessen Authentizität unzweifelhaft ist, spricht der Apostel von über 500 Zeugen der Auferstehung, „von denen die meisten noch heute leben“ (Vers 6), und nennt zwei von ihnen sogar mit Namen: Kephas (d. i. Petrus) und Jakobus. Wäre das unwahr, wäre Paulus blamiert. Daraus folgt: Sowohl die Erzählung von Tod und Auferstehung Jesu als auch deren theologische Deutung durch Paulus standen nicht im Widerspruch zu dem, was Augenzeugen bekannten. Und beides ist, historisch betrachtet, gut bezeugt.
Es ist ein Paradoxon: Je weiter die Christenheit vom historischen Jesus entfernt ist, desto mutiger wird die Theologie bei der Produktion von alternativen Fakten, also selbstbewußt vorgetragenen Theorien, wie alles in Wirklichkeit gewesen sein muß. Unter dem Titel „Notwendige Abschiede“ plädierte im Jahre 2004 (also im Jahr der Erstaufführung von „Die Passion Christi“) einer dieser Faktenerfinder, der evangelische Theologe Klaus-Peter Jörns, für die Abkehr vom eigentlich zentralen Gedanken des Sühnetodes Christi, den schon der Existentialist Albert Camus ironisch als „Geniestreich“ bezeichnet hatte.
Jörns ist überzeugt: „Der historische Jesus hat gebrochen mit der Theologie aller Opferkulte. Bei ihm selbst finden wir nichts von der Vorstellung, wonach das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen durch einen als stellvertretende Sühne verstandenen Opfertod geheilt werden könnte.“ Im Grunde werde durch diese Lehre die eigentliche Botschaft Jesu, eine Botschaft der Liebe und Lebensbejahung, verfälscht.
Jörns hielt wenig vom Mel Gibson-Film
Jörns plädiert dafür, sich von diesem Denken zu verabschieden. Den Begriff des Opfers möchte er ersetzt sehen durch den der „Lebensdienlichkeit“ und hat zu diesem Zweck auch gleich eine neue Abendmahlsliturgie entwickelt, aus der beispielsweise das Agnus Dei, der liturgische Gesang „Christe, du Lamm Gottes“, getilgt ist. Was er, wie übrigens die EKD insgesamt, von Mel Gibsons Film hielt, dürfte damit klar sein: nichts.
In seiner lesenswerten Aufsatzsammlung „Der überraschende Jesus“ (Freimund-Verlag 2021) setzt sich der konservative Theologe Christian Ottemann mit den Thesen des Berliner Professors für Praktische Theologie auseinander und wendet sich gegen die Plünderung zentraler Glaubensinhalte der christlichen Lehre zugunsten von modischen Neuinterpretationen. Er bettet den Gedanken der Sühne in den alttestamentlichen Kontext, also das semitische Denken, ein, das für das Urchristentum allgegenwärtig und für die Theologie des Neuen Testaments konstitutiv ist.
Im Rückgriff auf den schwedischen Theologen Gustav Aulén listet er drei traditionelle Interpretationen der theologia crucis auf: die klassische, die lateinische und die humanisierende. Letztere charakterisiert Ottemann als Anpassung daran, „wie wir Menschen uns heute gerne Gott vorstellen möchten“. Das Kreuz werde dabei reduziert auf eine „Demonstration der Liebe Gottes durch den leidenden und sterbenden Jesus“.
Gibt es nicht jene Macht des Bösen?
Das wirft freilich die Frage auf, ob Gott Liebe nicht auch etwas weniger drastisch hätte demonstrieren können als durch Folterung und Tod. „Funktioniert das Bild der Kreuzigung von Jesus […] als geistlich werbewirksame Veranschaulichung der Liebe Gottes?“ fragt Ottemann. Er benutzt zur Beschreibung des humanisierenden Versöhnungsbegriffs das Wort Amnestie und läßt die Frage folgen, ob sich bei einer Amnestie in der Psyche des Befreiten, der aber tatsächlich zu Recht im Gefängnis saß, noch etwas anderes einstellt als ein Gefühl der Erleichterung.
Mit dem Terminus Sünde würden nämlich in der Bibel üblicherweise nicht Bagatelldelikte bezeichnet, sondern: „Gemeint sind mit diesem Wort vor allem die ganz großen Rechtsbrüche: Hybris, Götzendienst und Zauberei als todeswürdige Rebellion gegen Gott und – im Zusammenleben der Menschen – das Phänomen der Blutschuld. Bei Blutschuld, also Mord, Totschlag oder fahrlässiger Tötung – was ist da mit den Opfern?
Was ist mit den Verletzten und Verkrüppelten und Ermordeten – und ihren Angehörigen? Genügt da eine bloße Amnestie für die Täter? Reicht sie tief genug? Gibt es nicht jene Macht des Bösen und seine negativen Energien, die durch ein schweres Verbrechen in uns Menschen, die Täter und die Opfer, eindringen und dann im Innersten zerstörend weiter wirken?“
Mit dem Opfer Christi wird das Sühneritual obsolet
Dem Begriff Amnestie stellt er den der Sühne als „Vorgang einer metaphysischen Entgiftung“ entgegen. Sühne, das heiße: „Gott schenkt reale, effektive Heilung und Befreiung für eine verletzte Seele beziehungsweise für ein vergiftetes, gelähmtes und beschädigtes menschliches Leben.“ Das, was die Bibel als Sünde bezeichnet, ist nämlich etwas, aus dem der Mensch von alleine nicht mehr herauskommt und das natürlich nach einer Amnestie auch nicht weg ist.
Der von Ottemann referierte Alttestamentler Klaus Koch spricht von einer Negativaufladung der „Tatsphäre“ des Menschen. „Sie beginnt den betreffenden Menschen innerlich und äußerlich zu zerstören, und sie zerstört auch die Gemeinschaft, deren Teil er ist. […] Nur durch ein übernatürliches Eingreifen Gottes, nämlich durch ein Geschehen der „Sühne“, kann die „schicksalwirkende Tatsphäre“ eines Menschen oder einer Gemeinschaft durchbrochen, gereinigt und umgestaltet werden.“
Solange dies nicht geschehen ist, bleibt der Mensch, der Schuld auf sich geladen hat, also jeder Mensch, abgeschnitten von derjenigen metaphysischen Sphäre, in der Gott sein unsichtbares Regiment ausübt und in der daher alles „in Ordnung“ ist. Zu ihr besteht durch die „unsterbliche Seele“, die in der klassischen Philosophie und Theologie eine feste Größe ist, eine ursprüngliche Verbindung, deren Störung im antiken Judentum durch in die Sphäre des Göttlichen real hineinwirkende und mithin nicht rein metaphorische Sühnerituale behoben werden konnte. Mit dem Ein-für-allemal-Opfer Christi wurden diese obsolet.
Der „von Gott selbst geschaffene Kraftort der Befreiung“
Für Ottemann ist das Kreuz daher „ein kosmisch-universaler Nervenknoten, ein spiritueller Verkehrsknotenpunkt an einer Nahtstelle zwischen Zeit und Ewigkeit, zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt“. Es sei der entscheidende, „von Gott selbst geschaffene Kraftort der Befreiung“. Die klassische Auffassung des Karfreitagsgeschehens erfaßt das große Ganze demnach erheblich tiefer als die postmodern-humanisierende. Sie begreift mit Martin Luther die Weltgeschichte als „Schauplatz eines Machtkampfes zwischen Gott und dem Satan“, geführt von Jesus, dem „Lamm Gottes“, als „Befreiungskrieg“ für die Menschheit, der auf Golgatha final entschieden wurde.
Genau diese Vorstellung ist auch sehr präsent in Mel Gibsons „Die Passion Christi“. An Stellen, wo die Bibel solches nicht zu berichten weiß, läßt der Regisseur den Teufel auftauchen und den Zuschauer rätseln: Triumphiert er, weil, wie es Paulus sagt, der Tod der Sünde Sold ist und er ihn kassieren kommt? Oder drückt seine finstere Miene bereits Erbitterung ob der nahen Niederlage aus? Jedenfalls deutet der Film das erlösende Osterwunder am Ende nur vage an und wird auch damit seinem Titel mehr als gerecht. Im bereits mit Spannung erwarteten „Die Passion Christi 2“ wird es dann endlich um die Auferstehung gehen. Das Leiden hat ein Ende.