Zum 125. Geburtstag Wilhelm Furtwänglers
Bis zu Wilhelm Furtwänglers Tod 1954 standen in der künstlerischen Würdigung die Kollegen Toscanini, Bruno Walter und Otto Klemperer gleichwertig an seiner Seite. Danach nahm Herbert von Karajan den Rang des bedeutendsten Pultvirtuosen Deutschlands ein, und heute ist fast allgemein anerkannt, daß Wilhelm Furtwängler der herausragendste deutsche Dirigent überhaupt gewesen ist.
Das beweist nicht nur der Nimbus, der seine Interpretationen umgibt, sondern vor allem die nicht nachlassende Nachfrage nach seinen Tonaufnahmen, eine Nachfrage, wie sie so bei Klemperer, Toscanini und Walter nicht besteht.
Dabei verstand sich der weltgerühmte Orchesterleiter Furtwängler lebenslang paradoxerweise in erster Linie als Komponist. Seine eigenen Schöpfungen sind jedoch kaum populär geworden, und viele Verehrer seiner Kunst wissen nicht einmal, daß er ein zwar nicht umfangreiches, doch gewichtiges kompositorisches Œuvre hinterlassen hat, das in einer raren Kompromißlosigkeit an allen Hörgewohnheiten und Vorlieben seiner Zeit vorbeimusizierte und auch heute nur von einer kleinen Schar von Musikfreunden gewürdigt wird.
Furtwängler selbst gab zu, daß seine Werke „sehr anspruchsvoll und der Mode des Tages entgegengesetzt“ seien, sah aber als seine Hauptaufgabe die Weiterentwicklung der tradierten symphonischen Musik innerhalb der Grenzen der Tonalität. Atonales Komponieren war für ihn zum künstlerischen Scheitern verurteilt.
Voller Unruhe und Qual
Das Wunderkind Furtwängler schrieb mit sieben Jahren sein erstes Lied, „Ein Stückchen von den Tieren“. Bis 1899 entstand eine Fülle an Kammermusikwerken, meist Brahms oder dem Lehrer Rheinberger verpflichtet, sowie ein erstes kurzes Orchesterwerk, die Ouvertüre in Es. Eine Symphonie in D vollendete er 1903, ein Largosatz für Orchester entstand 1908. Bis 1910 schuf er auch einige größere Chorwerke wie den „Religiöse Hymnus“ und ein Tedeum. Diese Chor- und Orchesterwerke, teilweise auf CD eingespielt, erschienen nicht im Druck.
Furtwänglers gewichtigste Schöpfungen entstanden jedoch erst nach Vollendung seines 50. Lebensjahres. Das älteste dieser Werke der Reifezeit ist ein Klavierquintett, trotz der C-Dur-Tonart voller Unruhe und Qual. Furtwängler arbeitete seit 1912 mit Unterbrechungen daran und beendete es erst 1935. Denn für alle seine Werke gilt, daß er niemals mit ihnen fertig wurde, und ständig, auch nach der jeweiligen Erstaufführung, Änderungen vornahm.
Der Musikschriftsteller Walter Riezler meinte nach einem Durchspielen über das Klavierquintett (eine öffentliche Aufführung gab es zu Furtwänglers Zeiten nicht), daß es „nicht viele Menschen gebe, die dieser Katastrophenmusik gewachsen“ seien. Furtwängler zuckte als Antwort lakonisch die Achseln: „Ich bin nun mal ein Tragiker.“ Das orchestral empfundene Werk ist vom Komponisten gleichsam als Vorstudie zur großen symphonischen Form konzipiert, der er sich nach 1938 widmen sollte.
Ähnliches gilt für beiden genauso überdimensionierten Violinsonaten (1935 und 1939). 1941 wurde dann nach dreijähriger Arbeitszeit die erste als gültig anerkannte Symphonie (h-moll) vollendet.
Längstes Klavierkonzert der Musikliteratur
Die zweite Symphonie (e-moll), vollendet nach zweijährigem Schaffensprozeß im Herbst 1945, gilt als Furtwänglers bedeutendste Schöpfung. Sie liegt in mehreren neueren Interpretationen (unter anderem von Barenboim), sowie in zwei Einspielungen Furtwänglers selbst von 1951 und 1954 vor.
Ihr wird das vorgeworfen, was eigentlich für alle Furtwängler-Werke gilt und man auch bei liebevoller Zuwendung zu ihnen zugeben muß: Die Thematik ist wenig einprägsam und blaß, die melodische Erfindung minimiert. Die ausschweifende Länge der einzelnen Sätze läßt den Zuhörer kaum die motivische Arbeit ohne Nachlassen der gedanklichen Konzentration nachvollziehen, auch wird durch die komplexe Variationstechnik die Sonatenform nicht mehr erkennbar.
Furtwänglers Instrumentierung ist überwiegend Grautönen verhaftet, es fehlt der strahlende Orchesterglanz (anders als bei Bruckner). Temperamentvolle schnelle Sätze oder Satzteile gibt es im Gesamtwerk fast nicht, Moderato und Largo sind die meist verwendeten Tempovorgaben (darin allerdings Bruckner sehr verwandt), oft gibt es den Zusatz „solenne“, feierlich – wie bei Bruckner, aber doch von ganz anderer Art. Furtwänglers Tonsprache ist darin am ehesten der des mittleren Hans Pfitzner verwandt (siehe dessen Symphonie cis-moll, op.36a). Furtwänglers Symphonien gelten als die längsten rein instrumentalen Werke der Musikliteratur überhaupt.
Das 1939 entstandene „Symphonische Konzert“ für Klavier und Orchester ist neben dem hybriden Klavierkonzert Busonis (mit obligatem Chor) mit 65 Minuten Spieldauer das zweifellos längste Klavierkonzert der Musikliteratur. Man höre es mit Edwin Fischer und dem Komponisten am Dirigentenpult. Eine großartige Aufnahme, wenngleich schwerste Kost. Eine viersätzige dritte Symphonie (cis-moll) konnte der Komponist kurz vor seinem Tode 1954 noch beenden, aber nicht mehr revidieren. Joseph Keilberth führte sie 1956 erstmalig auf. Auch sie ist auf CD erhältlich (Staatskapelle Weimar, George Alexander Albrecht). In ihren Sätzen „Verhängnis“, „Zwang des Lebens“, „Jenseits“, „Der Kampf geht weiter“ herrscht eine solch düstere Stimmung wie in keinem anderen Werk Furtwänglers.
Grüblerischer, unsicherer, verstörter Charakter
So sehr man ehrfurchtsvoll beim ersten Hören vor diesen Werken steht, so sehr einen der künstlerisch kompromißlose Ernst dieser Schöpfungen erschüttert, so schwer ist es auch, diesen Stücken die ihnen gebührende Liebe entgegenzubringen, wie es ähnlich bei den Werken Max Regers der Fall ist. Der unüberhörbar emotionsgeladenen, ja überladenen Musik gelingt es kaum, sich den Hörern mitzuteilen, die ja heutzutage durchaus an allerlei Nervenkontrapunktik á la Richard Strauss gewöhnt, mit der inneren Zerrissenheit Mahlers wie auch dem animalisch-kühlen Tonalitätsverlust Schönbergs vertraut sind.
Der weltmännische Dirigent Furtwängler ist als Komponist ein grüblerischer, unsicherer, verstörter Charakter, der voll Zweifel ist, ob er das Innerste seines Empfindens überhaupt öffentlich aussprechen darf. „Ich fühle mich, wenn ich ein eigenes Werk vorführe, wie ein 16jähriges Mädchen, das sich vor alten Lüstlingen ausziehen muß“, hatte Furtwängler einst zu seiner Frau gesagt. Und bei den Proben zur „Zweiten“ soll er voll innerer Erregung ohnmächtig geworden sein.
Doch sollte man Furtwänglers Musik aufgrund ihres vordergründig abweisenden Charakters keineswegs ablehnen oder gering achten. 1946 schrieb Furtwängler an den Archäologen Ludwig Curtius: „Meine Dirigentenkarriere … ist ernsthafter Erwähnung nicht wert, erwähnenswert ist aber, daß ich manchmal menschliche, warmherzige, natürliche und echte Aufführungen mache, die man sonst nur noch in seltenen Ausnahmen hört. In Wirklichkeit war das Dirigieren das Dach, unter das ich mich im Leben geflüchtet habe, weil ich im Begriff war, als Komponist zugrunde zu gehen.“
Aus diesem mehrdeutigen Wort wird deutlich, wie sehr Furtwänglers Seele anscheinend von dunklen Mächten gepeinigt wurde. Ein umfassendes Charakterbild des Menschen Furtwängler kann daher nicht nur der Dirigent geben, sondern wird erst aus der tiefgründigen Kenntnis auch der Kompositionen entstehen können, die trotz ihrer Unpopularität umso mehr die Beschäftigung mit ihnen lohnen.