Eine ganz schlechte Presse hat zur Zeit der Skeptizismus. Auf dem sogenannten Klimagipfel neulich in Kopenhagen wurde er nur noch als Schimpfwort gebraucht. Wer sich dort als „Klimaskeptiker“ zu erkennen gab, wurde sofort geschnitten, man verweigerte ihm jede Diskussion, ja sogar den Handschlag, draußen bei den Demonstranten mußte er Spießruten laufen, empfing Prügel, Fußtritte, Nasenstüber.
Aber auch diesseits von Kopenhagen leben Skeptiker zunehmend gefährlich. Man empfindet sie als störendes Element bei den großen Gutmenschenspektakeln, die Politik und Medien regelmäßig veranstalten, und läßt sie das spüren. Man nimmt ihnen übel, daß sie am Wert von „epochemachenden“ wissenschaftlichen Entdeckungen zu zweifeln wagen, obwohl die doch von potentiellen Nobelpreisträgern kommen, und daß sie immer wieder ein Gran Salz in die Suppe allgemeiner Begeisterung streuen. Man schimpft sie Miesmacher, Besserwisser, Klugscheißer, verdächtigt sie, bezahlte Agenten von Industrielobbies zu sein.
In Sachen Vergangenheitsbewältigung nähert sich der Skeptiker schon kriminellen Kreisen, die „leugnen“ und „verharmlosen“. Dabei leugnet und verharmlost er keineswegs, sondern er sagt: Bevor man eine Behauptung aufstellt bzw. sie leugnet oder verharmlost, muß man erst einmal selber nachsehen, was da stimmt oder nicht stimmt. Und solange man nicht selber genau nachgesehen und sich alle verfügbaren Standpunkte genau angehört hat, muß man in seinem Urteil bedachtsam und fragezeichenhaltig, eben skeptisch bleiben, besonders wenn die Behauptungen aus dem Mund von Mächtigen kommen, die ihre Macht nur allzu gern mißbrauchen und sie mit absoluter Wahrheit verwechseln.
Jahrhundertelang wurde der Skeptizismus, speziell im wissenschaftsbegeisterten Abendland, als erstrangige, jederzeit hochwillkommene Tugend gewürdigt. De omnibus dubitandum est, an allem ist zu zweifeln – das war das Logo faktisch aller nachdenklichen Erkenntnistheoretiker, vom hl. Augustinus über René Descartes und Karl Raimund Popper bis hin zu unserem Odo Marquard. Kein noch so nachdrückliches Beharren auf absoluter Wahrheit, sei es durch das Zeugnis unbrechbarer Glaubenstreue, sei es durch mathematische Formeln und Zahlenspiele, konnte den skeptischen Geist beruhigen.
Viele Skeptiker bezweifelten und bezweifeln sogar den Begriff von Wahrheit überhaupt. „Was ist Wahrheit?“ fragte schon Pontius Pilatus (und schickte Jesus ans Kreuz, nicht um der Wahrheit, sondern um der Staatsräson willen). Heute konstatiert die Quantenphysik, daß es einsehbare Wahrheit in den Lauf der Dinge gar nicht gibt, es gebe nur Wahrscheinlichkeiten, und das gelte natürlich nicht nur für Physiker, sondern für alle übrigen Naturwissenschaftler auch und für Historiker sowieso.
Tatenlosigkeit oder mangelnde Entschlußkraft folgen aus der skeptischen Haltung nicht. Jeder vernünftigen Handlung bzw. Entscheidung ist stets ein guter Schuß Skeptizismus beigemischt und macht sie erst wirklich human und gegebenenfalls revidierbar. Wer akzeptiert hat, daß unsere Erkenntnis nur Annäherung an die Wahrheit ist und unsere gutgemeinte Tat nur Annäherung an das wirklich Gute, der vermeidet es sorgsam, gewisse Dogmen aufzurichten, an die alle glauben „müssen“, bei Strafe von Zuchthaus und Schafott.
Er ist ständig darauf gefaßt, daß die Wirklichkeit allen kurrenten Theorien und Verabredungen ein Schnippchen schlägt und sich plötzlich von gänzlich unerwarteter Seite zeigt, so daß Korrekturen oder vielleicht sogar Falsifizierungen notwendig werden. Besonders die Wissenschaft muß unentwegt mit solchen Lagen rechnen, das heißt ein ständig wacher Skeptizismus ist für sie geradezu Lebenselixier. Jede dogmatische Verfestigung im Verlauf eines wissenschaftlichen Diskurses, jeder Rückzug der am Diskurs Beteiligten in bestimmte selbstgeschaffene „Lager“ und unter bestimmte Fahnen markiert das Ende jeder wissenschaftlichen Arbeit, die diesen Namen verdient.
Skeptizismus macht liberal, ja mehr noch: Er ist die selbstverständliche Voraussetzung jeglicher Liberalität, in der Politik wie im Alltagsleben, in der Wissenschaft wie bei der Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Kulturen und Zivilisationen. Die schier wahnwitzige Aggressivität, mit der in Kopenhagen die (extra so apostrophierten) „Klimaskeptiker“ angegangen wurden, war ein recht sicheres Indiz dafür, daß in unserer Gesellschaft die Liberalität insgesamt schwindet und sich, von ganz oben befördert, ein schwer erträgliches Klima des Dogmatismus und der Vorschriftenmacherei ausbreitet.
Die ständige Rederei von der „Demokratie“, deren Regeln man doch mit Pingeligkeit befolge, ändert daran nichts, ganz im Gegenteil, sie zeigt nur, daß die Demokratie bei uns zum Dogma degeneriert ist, dem man blindlings rhetorisch opfert. Man kann demokratisch sein und trotzdem höchst illiberal, wie unsere politische Praxis tagtäglich zeigt. Liberalität ist nicht gleich Liberalismus, und nicht jede Partei, die sich liberaldemokratisch nennt, hat von wahrer Liberalität auch nur eine Ahnung.
Liberalität ist kein genuin politischer Begriff, sondern eine Lebenshaltung, und ein gerüttelt Maß Skeptizismus gehört immer dazu. Das macht die Wut der aktuellen Skeptizismusgegner verständlich. Sie haben sich in einer zwar nicht liberalen, aber permissiven Gesellschaft eingerichtet, in der viel erlaubt ist, jedoch auch durchaus Grenzen des Erlaubten existieren und diese Grenzen sogar wichtigste Regionen betreffen und äußerst streng kontrolliert werden. Und da kommen sogenannte Skeptiker und wollen über die Vernünftigkeit dieser Grenzen und des Freigeheges dazwischen diskuteren dürfen! Und nennen sich sogar noch liberal! Ecrasez l’infame!
Wie spottete einst Oscar Wilde über die Skeptiker? „Der Skeptizismus ist der Anfang des Glaubens.“ Dem mag so sein. Aber zunächst einmal und bis auf weiteres sollte gelten: Der Skeptizismus ist das Tor zur wahren Freiheit.