Wiki“ heißt auf hawaiisch „schnell“ und bezeichnet außerdem ein System zur Erstellung untereinander verlinkter elektronischer Texte, sogenannter Hypertexte. Im heutigen Sprachgebrauch ist ein Wiki eine Online-Enzyklopädie wie Wikipedia, die 2001 von dem amerikanischen Internet-Unternehmer Jimmy Wales begründet wurde und heute an sechster Stelle der weltweit am häufigsten frequentierten Internetseiten steht.
Was als Spaßprojekt begann, hat mit der Entwicklung des Internet zum Leitmedium zu einer Revolution der Informationsverarbeitung geführt: Wie man früher zum Brockhaus griff, schaut man heute bei Wikipedia nach; während man damals aber wußte, daß ein Lexikon nur kurze, allgemeine Informationen liefert, werden Wikipedia-Artikel von Angehörigen der mit dem Internet aufgewachsenen Generation heute selbst in akademischen Arbeiten auf eine erstaunlich naive Weise zitiert.
Bezog das gedruckte Lexikon seine Legitimation aus der Tatsache, daß seine Artikel von ausgewiesenen Experten verfaßt waren, so eröffnet Wikipedia bekanntlich jedem die Möglichkeit, selber neue Artikel einzustellen oder bestehende zu überarbeiten, wobei die Qualität der Beiträge durch das demokratische Prinzip der großen Zahl gewährleistet sein soll: Das Wissen der Einzelnen wird sich akkumulieren, Falsches und Überflüssiges durch die Aufmerksamkeit der Mitautoren bald ausgeschieden. Zudem gibt es bei aller programmatischen Offenheit doch mancherlei Instanzen mit Filterfunktion, etwa die aus besonders fleißigen Autoren rekrutierten Administratoren, sowie Relevanzkriterien, die zum Beispiel festlegen, wie viele Bücher ein Schriftsteller verfaßt oder an welchen Wettbewerben ein Sportler mit welcher Plazierung teilgenommen haben muß, um „enzyklopädisch relevant“ zu sein.
So nötig die Versuche der Relevanzdefinition zur Vermeidung von Werbung und Selbstdarstellung sind, so kurios sind oft die Ergebnisse: Die „Hotelerbin“ Paris Hilton wird sehr viel ausgiebiger gewürdigt als der Barockdichter Andreas Gryphius; der Artikel „Arschgeweih“, der von Tätowierungen auf dem unteren Rücken handelt, ist deutlich länger als der über die causa sui, einen zentralen Begriff der abendländischen Philosophie; das Fernsehformat „Big Brother“ schlägt Kants „Kritik der reinen Vernunft“ um Längen, und der Container-Star Zlatko, der seinen kurzen, zweifelhaften Ruhm dadurch erlangte, daß er Shakespeare für eine Biersorte hielt, liegt mit dem Dichter Wilhelm Heinrich Wackenroder, einem Begründer der deutschen Romantik, etwa gleichauf.
Dergleichen Grotesken verdeutlichen den Unterschied zwischen doch nur quantitativer Relevanz aufgrund des aktuellen Bekanntheitsgrades eines Themas und einer Bedeutung, die sich an qualitativen Maßstäben orientiert: der Originalität oder dem Einfluß einer Persönlichkeit, der prägenden Wirkung eines Gedankens oder der Mustergültigkeit eines Prinzips für Jahrhunderte. Um dergleichen aber beurteilen oder überhaupt als Problem erkennen zu können, ist ein Ordnung stiftendes Bildungswissen erforderlich, das durch Information allein nicht vermittelt bzw. durch inflationäres Faktenwissen im Sinne des Hypertext-Prinzips, also der Verknüpfung von potentiell allem mit allem, verdrängt wird. Weitere spezifische Probleme, etwa die Wechselwirkung zwischen Wikipedia und anderen Medien, die sich gegenseitig zitieren und dabei Fehler übernehmen oder bestätigen, und die Anfälligkeit für Juxbeiträge, „Vandalismus“ und edit wars, in denen unterschiedliche Interessengruppen erbittert um einzelne Beiträge ringen, kommen hinzu.
Selbstverständlich hat Wikipedia schon Abspaltungen erlebt – etwa 2002 die der spanischsprachigen Enciclopedia Libre Universal, deren Betreiber eine Kommerzialisierung befürchteten – und zahlreiche Alternativprojekte angeregt, zum Beispiel die von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien in Deutschland indizierte, in sechzehn Sprachen verfügbare Metapedia und die im vergangenen Jahr gegründete Pluspedia, die „genug Platz für Irrelevanz“ bieten will; daneben gibt es auch satirische Parodien wie Kamelopedia.
Insgesamt lassen sich zwei Stoßrichtungen der Wikipedia-Kritik unterscheiden, eine „anarchische“ und eine „elitäre“, die mit dem Selbstverständnis der „Wikipedianer“ als „Inkludisten“ oder „Exkludisten“ korrespondieren: Pluspedia-Gründer Antony Saravanja glaubt bei Wikipedia eine die Meinungsfreiheit gefährdende Tendenz zur Ausbildung einer Administratorenelite zu erkennen. Dagegen fordert die Politikwissenschaftlerin Margret Chatwin in dem von den SPD-Politikern Stephan Braun und Ute Vogt herausgegebenen Sammelband „Die Wochenzeitung ‘JUNGE FREIHEIT’ – Kritische Analysen zu Programmatik, Inhalten, Autoren und Kunden“ (2007) mehr „redaktionelle Durchsicht“ insbesondere bei „zeitgeschichtlichen und politischen Themen“, da die „Neue Rechte“ dort versuche, eine „Meinungshoheit“ zu erlangen – umgekehrt werfen viele Konservative Wikipedia eine einseitige Ausrichtung am linksgerichteten Mainstream vor.
Das Grundproblem einer Entscheidung zwischen inkludistischer Verbreitung auch des Belanglosen oder exklusionistischer Redaktion nach Relevanzkriterien fächert sich innerhalb des „elitären“ Lagers weiter auf – je nachdem, ob primär wissenschaftliche Maßstäbe angelegt oder politische Positionen durchgesetzt werden sollen. Ob diese wie bei Metapedia rechtsaußen anzusiedeln sind oder in der Grauzone zwischen SPD und Linksextremismus – Chatwin war Betreiberin des umstrittenen „Informationsdienstes gegen Rechtsextremismus“ (IDGR), der sich bei seinen „Recherchen“ auch linksextremer Medien bediente –, ist dabei zweitrangig.
Da eine Info-Anarchie durch das Internet sowieso geboten wird und somit nicht auch noch Aufgabe einer Enzyklopädie sein kann, sind Hierarchisierungen unverzichtbar; die zukünftige Bedeutung von Wikipedia und ähnlichen Projekten wird also davon abhängen, ob es ihnen gelingt, sich als kreative Alternativen sowohl zu kommerziellen als auch zu ideologisierten Medien zu profilieren. Kreation aber ist nicht Selbstorganisation, und Fakten ordnen sich niemals von alleine. Nur Bildung schafft Ordnung.
Foto: Internetseiten von Wikipedia und Pluspedia: Alternativprojekte