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Sündenfall der Republik

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Am 15. August 1909 durchbohrt eine Kugel die Brust von Euclides da Cunha. Zum Zeitpunkt seines Todes ist er 43 Jahre alt. Sechs Jahre zuvor hatte er der jungen Republik Brasilien das Nationalepos, die „Bibel der Nation“, geschrieben. Es sollte sein einziges Erzählwerk bleiben.

Bis dahin war da Cunhas Leben eine einzige Suche, ein Jagen nach der finanziell abgesicherten Existenz als Autor. Gerade als die Suche erfolgreich zu enden schien, eine feste Dozentenstelle für Philosophie winkte, provozierte der rasende Dichter ein Duell – und verlor.

1866 in Janeiro geboren, wuchs Euclides da Cunha als Halbwaise bei Verwandten auf und besuchte früh die Militärakademie. In der damals monarchistischen Einrichtung fiel der konsequente Republikaner sofort auf – zumal er in seiner Jugend bereits Gedichte über die französische Revolution, über Saint-Just und Danton, publiziert hatte und dem Kriegsminister bei dessen Besuch in der Akademie den Degen vor die Füße schmiß. Mit 23 Jahren begann seine journalistische Laufbahn. Schließlich kam es zum Sturz der Monarchie. Aus Brasilien wurde eine Republik, und ihrem frühen Anhänger da Cunha hätte jetzt eine Karriere gewunken – hätte … Denn als erfolgreicher Selbstsaboteur wechselte er die Berufsrichtung – wurde Straßen- und Brückenbauingenieur.

Bald darauf, 1897, erlebte die Republik Brasilien ihren Sündenfall – durch ein Massaker, dessen Schrecken bis nach Europa hallte. Antonio Conselheiro, ein fanatischer Priester, hetzte die Bauern des Sertão zum Aufstand. Kurz darauf erklärte die Regierung Conselheiro samt seinen Anhängern zu Kriminellen und sandte Truppen zu deren Stützpunkt, der Stadt Canudos. In der Folge wurden die Bauern bestial abgeschlachtet. Kaum ein Bewohner von Canudos überlebte.

Euclides da Cunha war als Kriegsberichterstatter für die Estade de São Paulo vor Ort. Fünf Jahre später verfaßte er auf  Grundlage dieser Erfahrung und zusätzlicher Lektüren sein Werk „Os Sertões“ (Krieg im Sertao, 1902).

Als Nationalepos ist es absolut untypisch. Ganz ohne Helden kommt es aus: kein Odysseus, kein Gilgamesch, kein Aeneas. Zudem verzichtet es auf jeden  Mythos: Sein Autor hält sich soweit als möglich an die „Fakten“, nur seine Sprachgewalt verleiht dem Werk die hohe Wirkungskraft. Das eigene Volk wird nicht verherrlicht – statt dessen schildert da Cunha den Kampf um eine brasilianische Identität, die verschiedene Volksgruppen und eine extrem disparate Geographie auf den gemeinsamen Nenner bringen muß. Der Dichter besingt keine patriotischen Großtaten, zeigt vielmehr den Genozid der brasilianischen Republik an Mitgliedern der eigenen Bevölkerung. Sein Nationalepos ist ein Werk schonungsloser Selbstkritik. Auf Theorien von Auguste Comte, Charles Darwin sowie zahlreichen Sozialwissenschaftlern gestützt und in anspruchsvoller Erzählform gehalten, stellt „Os Sertões“  hohe Anforderungen an den Leser.

Die ersten 75 Seiten sind pure Beschreibung der Landschaft des Sertão. Aus ihrem Einfluß versucht der Autor den Charakter der Bewohner abzuleiten. Das klingt so trocken wie die Sertão-Wüste, aber unter da Cunhas Feder wird selbst die lebendig. So malt er „ein aufgewühltes Küstenrelief, entstanden aus der zersprengten Mächtigkeit der Gebirge, zu schwindelnden Graten sich türmend und von Buchten zernagt, zu Meerbusen sich weitend und in Inseln zerfallend und in kahle Riffe zerberstend – Trümmerstätte des Kampfes, der dort seit Urzeiten tobt zwischen Land und Meer“.

Existentielle Dynamik spiegelt sich in dieser Landschaft – sowohl in der belebten wie der unbelebten Materie. Besonders im heroischen Versuch zahlreicher Pflanzen, sich in dieser spröden Erde zu verwurzeln – oder des Menschen wie im zweiten Kapitel „O Homem“ (Der Mensch), das gleichsam essayistisch gehalten ist. Da Cunhas Darstellung des Sertão-Bauern erkennt die übermenschliche Leistung an, die im Besiedeln dieser Gegend steckt, beschönigt andererseits das Elend nicht: „Dieser Herkules-Quasimodo verrät die typische Häßlichkeit der Schwachen“, wobei er im Kampf gegen die zyklisch wiederkehrenden Katastrophen nie nachläßt. Diese ewige Wiederkehr des Katastrophalen ist fester Bestandteil in da Cunhas Weltbild.

Erst nach 250 Seiten beginnt die Schilderung der politischen Tragödie. Auch hier verliert da Cunha keine Worte des Mitleids, sondern provoziert moralische Reaktion durch Schockästhetik: So schreitet nach dem Massaker eine knochige Greisin mit wutverzerrter Miene schweigend an den Menschen vorbei. „In ihren dünnen Armen hielt sie ein Mädchen, Enkelin, Urenkelin, Ururenkelin vielleicht. Und dieses Kind erregte Grauen. Seine linke Gesichtshälfte war vor längerer Zeit von einem Granatensplitter fortgerissen worden, so daß die Kieferknochen hellweiß zwischen den roten Rändern der schon vernarbten Wunde hervorschienen … Die rechte Gesichtshälfte lächelte. Entsetzlich war dieses unvollständige, unendlich schmerzliche Lächeln, das die eine Gesichtsseite mit Anmut überzog und auf der anderen plötzlich im Krater einer Wunde versank.“ Selbst ein Foto könnte das Verbrechen kaum deutlicher vermitteln.

„Os Sertões“ hat unzählige Autoren, Comiczeichner, Film- und Theaterregisseure inspiriert – auch über Brasilien hinaus. So schrieb der berühmte Peruaner Mario Vargas Llosa mit dem Roman „La guerra del fin del mundo“ (Der Krieg am Ende der Welt, 1981) eine eigene Version dieser Schlacht, farbig und brutal bis an die Schmerzgrenze. Der Roman beginnt mit der Widmung „Für Euclides da Cunha in der anderen Welt“.

Eine nicht minder berühmte Bühnenadaption legte 2002 die brasilianische Regielegende Zé Celso mit seinem Teatro Oficina in São Paulo vor, inzenierte „Os Sertões“ als zwanzigstündige Funk- und Sambaoper, verteilt auf vier Abende. Unter der Mitwirkung brasilianischer Musikstars wie Mariana de Moraes oder Laeticia Coura entstand eine überschäumende Theaterdroge, deren Wildheit beim Gastspiel in der Berliner Volksbühne (2005) die hiesige Fachpresse ins Schwärmen und diverse Boulevardblättchen in Panik geraten ließ.

Aber wie kam es zu dem Duell, bei dem da Cunha starb? Kaum schien eine Anstellung als Philosophiedozent seine Existenz dauerhaft zu sichern, da wurde seine Frau schwanger. Nur – nicht von ihm. Ob das auf da Cunhas Qualitäten als Ehemann oder auf das Temperament seiner Frau verweist, bleibt offen. Jedenfalls überkam den gehörnten Ehemann eine heftige Wut. Er forderte den Nebenbuhler zum Duell – und unterlag. Das Haus in Sao José de Rio Pardo, in dem da Cunha „Os Sertões“ schrieb, ist heute ein Museum.

Die deutsche Übersetzung von „Os Sertões“ (Krieg im Sertão) durch Berthold Zilly ist 1994 im Suhrkamp-Verlag (gebunden, 783 Seiten, 51 Euro) erschienen.

Fotos: Sertão, Landschaft in Brasilien: Ein Massaker an Bauern, dessen Schrecken bis nach Europa hallte, Euclides da Cunha

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