Die Idee des Drachens als Herrschaftssymbol war auch Europa nicht fremd. Jedenfalls wurden im römischen Reich seit dem 3. oder 4. Jahrhundert Drachenfahnen als kaiserliches Zeichen verwendet. Wahrscheinlich handelte es sich um die Übernahme eines orientalischen (parthischen beziehungsweise persischen?) Brauchs, der dann durch die Römer an ihre Feinde und Verbündeten weitergegeben wurde.
Drachenfahnen fanden sich jedenfalls bei germanischen wie keltischen Völkern der Spätantike und des frühen Mittelalters verbreitet. Es gibt Buchmalereien aus karolingischer Zeit, die das fränkische Heeresaufgebot mit einer Drachenfahne nach römischem Muster zeigen, die aus einem plastischen Kopf an der Stange und einem schlauchartigen Leib bestand, der sich beim Anreiten mit Luft füllte und deshalb bedrohlich plastisch wirkte.
Berühmter ist allerdings ein anderer Fall der Identifizierung mit dem Drachen. Dabei handelt es sich um den roten Drachen als „Wappen“ des legendären britischen König Artus. Nach der Überlieferung träumte der Vater von Artus, Uter Pendragon (der Beiname soll wahrscheinlich soviel wie „großer“ oder „Hauptdrachen“ bedeuten), es werde zu einem Kampf zwischen einem roten und einem weißen Drachen kommen. Der weiße, der die eindringenden Angeln und Sachsen symbolisierte, siegte zuerst, und der rote schien tot, erhob sich dann aber wieder und unterwarf den weißen. Die Vision bezog sich auf die Taten seines Sohnes Artus, der deshalb wie Uter eine Drachenstandarte führte.
Von diesem sagenhaften Vorbild inspiriert, ließen die englischen Könige Richard Löwenherz und sein Bruder Johann ohne Land Drachenfahnen als Feldzeichen anfertigen. Ähnliches galt noch für Heinrich III. und Eduard III. Dann trat das Drachensymbol ganz zurück hinter dem des Löwen.
Nur in Wales vollzog sich eine andere Entwicklung durch den Machtanspruch Owen Glendowers, der im 15. Jahrhundert die Herrschaft gewann, das Land einte und dazu das Feldzeichen des walisischen Helden Cadwalader – eine Drachenfahne – aufzog. Einer seiner Vettern war Owen Tudor, Vorfahr jenes Heinrich, der als Heinrich VII. den englischen Thron besteigen sollte und einen roten Drachen verwendete. Er wurde bei seinem Siegeszug als Nachfahr Artus’ gefeiert und zeigte Drachenfahnen, die man auch bei den Krönungsfeiern aufstellte.
Diese Praxis erinnert an bestimmte Aspekte der von Kaiser Maximilian I. bevorzugten Herrschaftssymbolik. Neben seinem Kenotaph in Innsbruck kann man heute noch eine lebensgroße Bronzefigur von König Artus bewundern, den er zu seinen sagenhaften Vorfahren zählte und dessen Rüstung über und über mit kleinen Drachen bedeckt ist.
Albrecht Dürer gestaltete außerdem das Bildwerk der „Triumphpforte“ Maximilians mit einem Deckblatt, auf dem die Fahnenträger des Herrschers ein Banner mit dem Doppeladler, ein anderes mit dem Drachen hielten. Diese Vorstellung von imperialen Zeichen hat vielleicht sogar eine Rolle für die Wappengestaltung Papst Pauls V. gespielt, der – weil aus ghibellinischer Familie stammend – im Schildhaupt einen Adler, im Feld aber einen goldenen Drachen auf rotem Grund zeigte, der noch heute an vielen Stellen die vatikanischen Prunkräume und den Petersdom ziert.
Allerdings hat sich der Drachen als Kaisertier im Westen letztlich nicht durchsetzen können. Dazu war die aus dem biblischen Kontext herrührende Wertung zu negativ. Erhalten blieb er als positives Zeichen nur bei den keltischen Randvölkern. So im Falle von Wales, wo Artus’ roter Drachen zusammen mit den weiß-grünen Farben (beides abgeleitet aus der Kleidung und dem Feldzeichen der Männer des Schwarzen Prinzen in der Schlacht von Crécy, 1346) das Motiv der Flagge bildet. Obwohl seit langem gebräuchlich, wurde das Symbol erst 1953 durch Königin Elisabeth II. offiziell anerkannt.
Darüber hinaus ist der rote Drachen bis heute Ausdruck des auf größere Selbständigkeit drängenden Teils der Waliser und der betont „keltischen“ Bewegungen auf den britischen Inseln und dem Kontinent; die radikale separatistische Bewegung Cymru 1400 – The Welsh Republican Movement zeigt zum Beispiel einen roten Drachen auf schwarzem Feld, und die bretonischen Nationalisten der Adsaw – Parti Breton verwenden einen roten, feuerspeienden Drachen mit einem Pfeilbündel in der Kralle.
Die JF-Serie „Politische Zeichenlehre“ des Historikers Karlheinz Weißmann wird in zwei Wochen fortgesetzt.
Foto: Walisische Flagge: Der rote Drachen geht auf König Artus zurück