Gibt es eigentlich den sympathischen Spitzel, vielleicht sogar Oberspitzel, Superspitzel? Im Amerika des neuen, angeblich ziemlich geheimdienstskeptischen Präsidenten Obama fragt sich das jetzt so mancher. Auffällig viele „objektive“, strikt „historisierende“ Biographien über den wohl größten Oberspitzel aller Zeiten, nämlich J. Edgar Hoover, erscheinen. Den Ton gibt das vor wenigen Jahren herausgekommene Buch von Curt Gentry „J. Edgar Hoover. The Man and The Secrets“ an, das inzwischen einen ganzen Rattenschwanz von schnellschüssigen Nachfolgern gefunden hat. Gentrys Buch ist für 11 Euro bei Amazon zu haben, und alle Kritiker loben es als „das Muster eines Sachbuches“. Es demonstriere exemplarisch die höchste Tugend, die ein Autor erlangen könne: die unbedingte Treue zu seinem Stoff, zu den Fakten und ihrer Wahrheit.
J. Edgar Hoover (geboren 1897) war der legendäre Direktor des amerikanischen Inland-Geheimdienstes FBI. Er selbst gründete dieses „Bundesbüro für Ausforschung“ (Federal Bureau of Investigation) 1924 in der heutigen modernen Form und leitete es volle achtundvierzig Jahre lang, bis zu seinem Tod 1972. Er überlebte sage und schreibe acht Dienstherren, also US-Präsidenten, und wurde darüber zum meistkommentierten – und bestgehaßten – Mann der USA.
Hoover legte systematisch gigantische Spitzelberichte und Einschätzungen nicht nur über Obergangster vom Schlage Dillinger und Al Capone an, sondern auch über Kommunisten, Schwarze Panther, deutsche und russische Emigranten, Bürgerrechtler, überhaupt alle, die irgendwie „verdächtig“ daherredeten. Die Strecke seiner Aktenordner zog sich über Meilen hin, und nur er, Hoover, und zwei, drei seiner allerengsten Mitarbeiter wußten, wo was stand und wie man es zu dechiffrieren hatte.
Spätestens ab den fünfziger Jahren war Hoover der Haupt- und Lieblingsfeind der diskutierenden Klasse. Die Literatur über ihn ereichte Tsunamiformat. Es gab die wüstesten Unterstellungen. Der FBI-Direktor sei ein paranoider Sadist, hieß es, zumindest sei er schwul und laufe zu Hause in Frauenkleidern herum, er verletze dauernd Gesetze, um an Informationen heranzukommen, und er habe den unerhörten Ausspruch getan: „Mir ist völlig egal, wer unter mir Präsident der Vereinigten Staaten ist.“
Curt Gentrys Buch nun räumte mit alledem auf, und zwar völlig contre cœur, darin bestand seine Sensation. Gentry ist eingestandenermaßen selber ein liberal, ein Linker und Anhänger der „Zivilgesellschaft“. Er wollte Hoover gründlich am Zeuge flicken – aber er konnte es einfach nicht. Je tiefer er sich in die seit Generationen umlaufenden Gerüchte und Anschuldigungen vertiefte, um so schärfer sah er ihre Unhaltbarkeit oder Unbeweisbarkeit.
Je länger er an dem Fall arbeitete, um so „sympathischer“ erschien ihm Hoover. Es entstand das Bild eines etwas schüchternen, in seinen privaten Lebensansprüchen recht bescheidenen Junggesellen, der in der Freizeit gern mit Schauspielern zusammensaß und eine romantische Verehrung für den Filmstar Dorothy Lamour hegte. Seine vielberedete „Erpressung“ der Kennedy-Brüder bestand in Wirklichkeit darin, daß Hoover seinen unmittelbaren Vorgesetzten, den Generalstaatsanwalt Robert Kennedy, davon unterrichtete, daß dessen präsidialer Bruder John F. Liebesbeziehungen zu einer Mafiabraut unterhielt und daß daraus Peinlichkeiten entstehen könnten.
Von den Vorwürfen wegen angeblicher Gesetzesübertretungen blieb einzig übrig, daß Hoover, ein Technikfreak, einige Abhörwanzen konstruieren ließ und sie auch einsetzte. Gemessen an den heute üblichen Abhöraktionen und Datensammlungen erscheinen seine Methoden geradezu prähistorisch. Gentry gab sich die größte Mühe, das Gegenteil zu beweisen, aber es kam heraus: Unter Hoover wurde, sehr im Gegensatz zur Ära Bush jun., weder gefoltert noch erpreßt. Der von ihm (mit-)vertretene Rechtsstaat verhielt sich gegenüber seinen inneren Feinden exakt so, wie es einst Carl Schurz gefordert hatte: „Beim Kampf immer eine Hand auf dem Rücken!“
Das ganze Ausmaß damaliger Selbstbeschränkung wird einem bewußt, wenn man Hoovers Praktiken mit denen der zur gleichen Zeit im Osten aktiven Innengeheimdienste vergleicht. Stasi und KGB kannten gar keinen Unterschied zwischen Innen und Außen. Sie führten ihre Aktionen gegen das eigene Volk wie Kriegshandlungen gegen auswärtige Mächte durch. Das Spitzeln und Datensammeln war im Grunde zweitrangig, nach- bzw. vorgeordnet. Im Zentrum stand, neben dem Foltern und Erpressen von Gefangenen, aktives „Zersetzen“ nicht genehmer Milieus, Agent-Provokation, Terror, geistige Vernichtung, bevor die physische kam.
Verglichen mit einem Mielke oder Berija, aber auch mit einem beliebigen heutigen Chef eines westlichen Inland-Dienstes, war J. Edgar Hoover tatsächlich nichts weiter als ein überlebensgroßer Spitzel, in mancher Hinsicht eine fast komische Spitzweg-Gestalt oder aber die reine Witzfigur, wie wir sie aus alten James-Bond-Filmen kennen.
Trotzdem bleibt die Frage: Ist solch eine Gestalt „sympathisch“, hebt sie sich wenigstens in „sympathischer“ Weise von ihren trübseligen Pendants im Osten und ihren kaum weniger trübseligen Nachfolgern im Westen ab? Die Antwort lautet: nein. Es gibt wohl grundsätzlich keine sympathischen Spitzel und auch keinen sympathischen Spitzelkapitän. „Sympathie“ heißt an ihrem Ursprung „Mitleiden“, sich liebend auf den anderen einlassen, auf jeden Fall ein Verhältnis des Vertrauens zu ihm herstellen. Der Spitzel aber, jeder Spitzel, zerstört dieses Vertrauen.
Mag sein, es muß ihn geben, er gehört zur Grundausstattung jeglicher Staatlichkeit, ob der Staat nun eine Diktatur, eine Demokratie und/oder ein wirklicher Rechtsstaat ist. Aber sympathisch finden muß man ihn deshalb nicht, sowenig wie man den Anus sympathisch finden muß, weil er zur Grundausstattung des Lebens gehört. Schade eigentlich für J. Edgar Hoover.