Duplizität der Ereignisse: Roger Kusch, Hamburgs prominenter Sterbehelfer, gibt sein Geschäft auf, weil es unter den hierzulande waltenden gesetzlichen Bestimmungen nicht mehr „in Würde“ zu betreiben sei; Daniel Kehlmann, der Schriftsteller, bringt in seinem neuen Buch „Ruhm“ eine anrührende Geschichte über eine kranke alte Dame, die gegen ihren Autor aufbegehrt, weil dieser sie zur Sterbehilfe und zum Sterben in die Schweiz fahren läßt – und dabei will sie doch leben! Man merkt: Das Projekt „Aktive Sterbehilfe“ hat in Deutschland nach wie vor keine guten Karten. Seine staatliche Legalisierung läßt weiter auf sich warten, trotz des holländischen „Vorbilds“.
Pankraz registriert es, wenn auch zögerlich, mit Zustimmung. Sterbehilfe, meint er, ist einfach kein Thema für den Gesetzgeber. Sie ist angefüllt mit tragischen, durch und durch privaten Konflikten, die durch kein Gesetz beruhigt werden können. Es gibt eben Lebenslagen, wo es allein auf die Einzelentscheidung ankommt, welche im Halbdunkel ungeklärter Legalität bleiben muß, weil andernfalls nur Verwirrung und Unheil gestiftet würden.
Sterbehilfe-Gesetze schaffen Präzedenzfälle und eine entsprechende Kasuistik, an denen konkrete Einzelfälle fast automatisch „gemessen“ werden, siehe Holland. Was sich früher exklusiv zwischen dem Sterbewilligen, seinem Arzt und seinen allerengsten Vertrauten abspielte, wird durch eine, und sei es noch so bemühte, Gesetzgebung zur quasi öffentlichen Angelegenheit, unreine Kräfte hängen sich daran und sind kaum abzuhalten.
Geldgierige oder pflegeunwillige Angehörige kriegen Oberwasser, Krankenhausverwaltungen, die ihren Bestand an Pflegeplätzen kalkulieren müssen, Versicherungen, die auf ihre Bilanzen sehen, nicht zuletzt Meinungsmacher, die einen öffentlichen Druck auf die Opfer ausüben, des Sinnes, daß diese endlich abfahren und der Gemeinschaft nicht länger zur Last fallen. Man mag sich all den medialen Horror, der hier lauert, gar nicht ausmalen.
All das ändert freilich nichts an der Tatsache, daß die Sterbehilfe – auch die aktive – vernünftige und höchst ethische Argumente auf ihrer Seite hat, die nicht einfach unter Hinweis auf mögliche Mißbräuche oder Deformationen unter den Teppich gekehrt werden dürfen. Und auch jene zwei wuchtigen General-Einwände, die von den prinzipiellen Gegnern der Sterbehilfe ins Feld geführt werden, stehen bei Lichte betrachtet eher auf schwankenden Füßen.
Es sind dies erstens die Mahnung, daß Gott allein über die Dauer des Lebens zu entscheiden habe, und zweitens die Erinnerung daran, daß zum Leben auch das Leid gehöre und dieses Leid zu ertragen sei, daß man ihm nicht durch eine „Flucht in den Tod“ ausweichen dürfe. Beide Argumente überzeugen Pankraz nicht, und er ist gewiß nicht der einzige, der skeptisch bleibt.
„Du sollst nicht morden“, sagt das Gottesgebot, nicht: „Du sollst nicht töten“. Der Mord also ist das absolute Anathema, nicht der Tod. Das Leben als solches ist der Güter höchstes nicht. Es gibt ethische Lagen, wo es vom Einzelnen oder von der Gemeinschaft tapfer zur Disposition gestellt werden muß; gerade die Kirche sollte dafür einen Blick haben, beruht doch ein gut Teil ihrer Ruhmesgeschichte auf der Erinnerung solcher Lagen. Sind denn jene Märtyrer, die sich um Jesu willen weigerten, den römischen Kaiser als Gott zu bezeichnen, und dafür mit dem Leben einstanden, keine Ruhmestitel mehr?
Nach der modernen, ausschließlich aufs (Über-)Leben kaprizierten Observanz waren die Märtyrer „Selbstmörder“. Ein einziges Wort ihrerseits hätte genügt, und sie hätten überlebt. Aber sie blieben stumm. Was für sie Jesus war, das ist für andere, nicht strikt christliche „Selbstmörder“ die Menschenwürde, die Selbstbestimmung, das „Hegemonikon“. Sie wissen: Es gibt Situationen, die so schmachvoll, so absolut und buchstäblich unter jeder Würde eines Menschen sind, daß man ihnen nur durch den Tod begegnen kann.
Sicher, diese Menschen leiden an ihrer Schmach, die ja auch tatsächlich das größte Leiden ist, das sich vorstellen läßt. Körperliche Schmerzen können technisch-medizinisch gestillt, Behinderungen können wenigstens zum Teil kompensiert werden. Unstillbar und unkompensierbar hingegen ist das Leiden an der abgrundtiefen und im Leben nicht mehr überwindbaren Würdelosigkeit. Wer statt ihrer nach langen Bedenken den Tod wählt, ist kein Selbstmörder, und die ihm dabei helfen, sind keine Mörder.
Natürlich gehört das Leiden unabtrennbar zum Leben dazu, ist sogar, wie Nietzsche, Thomas Mann und viele andere wußten, ein erstrangiger Spender gehobenen, anspruchsvollen Lebens, stellt den Leidenden unter ein speziell auf ihn selbst und seine Fähigkeiten zugeschnittenes Gesetz, verlangt ihm Tapferkeit und andere hohe Tugenden und damit große Werke ab. Man muß sich am Leiden bewähren. „Töten auf Verlangen“ kann nicht nur für (allzu beflissene) Helfer, sondern auch für den Todbegehrenden selbst ein Weg der Bequemlichkeit und des Kleinmuts sein.
Bei der Entscheidungsfindung kann es immer nur um den Karat des Leidens gehen, um seine genaue Abwägung gegen die Tapferkeit, die Tugend und die Würde – ein schwieriges Geschäft, für das wirklich begabte „Sterbehelfer“ gebraucht werden, Meister und Meisterinnen des Mitleidens, des Mitfühlens, der Liebe. Würde eine Legalisierung das kleine Kommando dieser raren Meister vermehren und qualifizieren? Oder würde nicht im Gegenteil alles in Routine und geleckter Geschäftigkeit versinken, so daß das „Sterben auf Verlangen“ ein noch einsameres Geschäft würde, als es das Sterben ohnehin schon ist?
Soeben hat Hans Küng angesichts des Dahinsiechens seines demenzkranken, sterbewilligen Freundes Walter Jens öffentlich eine Legalisierung der Sterbehilfe in Deutschland gefordert. Vielleicht hätte er sich statt dessen, schweigend und „illegal“, zumindest im Halbschatten des Gesetzes, selber als Sterbehelfer bewähren sollen.