Das Neofolk-Genre hat seinen Zenit längst überschritten, seit mindestens zehn Jahren stagniert die Szene auf einer zwar qualitativ hochwertigen, aber gleichsam auch allmählich langweiligen Ebene. Allzu viele „Projekte“ haben seither versucht, mit billigen Retortenklängen und ein paar darübergelegten Hitler-Reden zu ihren „15 Minuten Ruhm“ zu kommen. Selbst die großen alten Pioniere des Genres üben sich, wie beispielsweise Death in June, seit langem in der Kunst der Selbstkopie (was ihrer Kunst keinen Abbruch tut, aber eben nicht wirklich kreativ ist) oder haben sich gänzlich vom Neofolk und seinen martialischen Anwandlungen abgewandt wie das österreichische Ex-Vorzeigeprojekt Der Blutharsch, die nunmehr auf den Spuren des Acid Rock wandeln – wenn auch nach wie vor partiell uniformiert.
Um so erfrischender nimmt sich schon ab der wenig beachteten Erstveröffentlichung „Berlin“ von 2005 das Projekt ROME des Belgiers Jerome Reuter aus. Seit diesem ersten Lebenszeichen warfen ROME jedes Jahr ein neues Album auf den Markt, die jedes für sich einen sehr eigensinnigen und durchweg tiefgründigen Blickwinkel auf das für Europa so schicksalsträchtige 20. Jahrhundert eröffneten.
Von Anfang an bildeten sich in der künstlerischen Gestaltung gewisse Konstanten aus, darunter vor allem die sonore, anrührende Stimme Reuters sowie seine sehr elaborierte und kunstvolle Lyrik, die mit Sprachen, Metaphern und Andeutungen spielt, um aus jedem Liedtext ein Gesamtkunstwerk zu machen, dessen Hintergrund und Bedeutung für den Konsumenten nie ganz leicht zu erschließen ist.
Andere Elemente haben sich im Laufe der Zeit verändert, so daß auf dem nun vorliegenden Album „Flowers From Exile“, dem ersten nach dem Wechsel von Cold Meat Industry zu Trisol, zugunsten des viel stärker betonten Liedermacher-Elements die früher in rauhen Mengen bemühten Samples aus allen nur erdenkbaren Quellen weit hinter akustischen Instrumenten und rhythmischer Gestaltung zurücktreten.
Aufgeteilt in die vier thematischen Bereiche „Reiseherrschaft“, „Besitzbegrenzung“, „Ruheverbot“ und „Verzicht“ seziert man auch diesmal die Katastrophen der neuesten Geschichte mit einem Hauptaugenmerk auf dem angerichteten Leid; allen Liedern hängt jedoch eine leicht mediterrane Atmosphäre an, die eine Bezugnahme auf den Spanischen Bürgerkrieg erahnen läßt. Vom verträumten „Odessa“ bis zum feurig tanzbaren „The Secret Sons Of Europe“ mit seinen Flamenco-Anleihen und spanischen Männerchören beschwören die Lieder eine Stimmung der Heimatlosigkeit und des Verlassenseins herauf. Sie kann und darf gleichnishaft für das Schicksal der Vertriebenen stehen, jener „verborgenen Söhne“ Europas nach dem großen Krieg („To Die Among Strangers“).
Alles in allem haben ROME sich – wie sie im vorhinein treffend orakelten – mit dieser Melange aus Neofolk, Chanson, Akustikrock und düsterem Ambient dem künstlerischen Niveau des großen Leonard Cohen ein gutes Stück angenähert. Die verstärkte Hinwendung zum akustisch instrumentalisierten Lyrikvortrag mag zwar nicht jedem Hörer der ersten Stunde auf Anhieb gefallen, doch ist „Flowers From Exile“ definitiv ein Meilenstein für dieses sehr junge Projekt.
CD: Rome, Flowers From Exile, Trisol/InfraRot 2009