Die Inszenierung antiker Tragödien im modernen Sprechtheater endet meist im Desaster. Riesige Textmassen, von denen zahlreiche Abschnitte einst gesungen wurden, zu denen der Chor tanzte, aber jetzt nur noch gesprochen, in holprig überätzten Versen – da ist Langweile für masochistische Bildungsnarren angesagt. Wenn schon aufführen, dann als Performance oder Oper!
Letztere ist der eigentliche Fetisch Werner Schroeters. Der 65jährige Maria-Callas-Fan auf Lebenszeit, der seit den 1970er Jahren sowohl als Experimentalfilmer, Theater- und Opernregisseur nach menschlichen Sehnsüchten, nach den großen Gefühlen sucht – ist er nicht prädestiniert für die Inszenierung von Antigone und Elektra? Aber nicht die antiken Versionen, die sind zu distanziert. Nicht so die Nachdichtungen: die „Antigone“ von Friedrich Hölderlin und Hugo von Hofmannsthals „Elektra“, beide vom Mythos des Wahnsinns umgeben.
Hölderlins Version löste bei damaligen Rezensenten Irritation aus. Die erklärten den Autor für wahnsinnig. Ohnehin glaubten Zeitgenossen zum Zeitpunkt der „Antigone“-Veröffentlichung (1804) Anzeichen mentaler Verwirrung an ihm festzustellen. Der Tübinger Turm war nicht mehr weit.
Hugo von Hofmannsthal hingegen schrieb seine „Elektra“ unter dem Einfluß der frühen Hysteriestudien Sigmund Freuds. Die Sprache seiner Sophokles-Adaption ist derart gesättigt von Qual, Zwang und Sehnsucht, daß sie sich weniger auf Sprechbühnen als in Richard Strauss’ Opernfassung durchsetzte – und unbedingt ins Schroeter-Universum gehört, zusammen mit Antigone: unter dem Titel „Alles ist tot – Formen der Einsamkeit“.
Vor der Volksbühne – wegen Renovierung geschlossen – wurde ein Amphitheater, die „Agora“, errichtet. Sieben Ränge, Sandboden, im Hintergrund die neoklassizistischen Säulen der Hausfassade. Hier klagen Antigone und Elektra um den toten Bruder, den verstorbenen Vater. Beider Tragödien sind ineinander geschoben, die Regie „zappt“ zwischen ihnen hin und her. So zeigt sich die parallele Struktur beider Dramen: Zwei junge Frauen (Antigone/Elektra), deren Bindung an verstorbene Familienmitglieder (Vater/Bruder) das gesamte Fühlen und Handeln bestimmt. Beide haben eine Schwester (Ismene/Chrysothemis), die vergeblich zur Mäßigung ruft. Es gipfelt in der Konfrontation mit der Vater- bzw. Mutterfigur (Kreon/Klytemnästra) und – daraus folgend – dem Tod beider Heldinnen.
Schroeter inszeniert seine vier Darstellerinnen nicht in antiken Gewändern, sondern in barockartigen Opernkostümen. Auch das Drei-Personen-Orchester (Sir Henry, Neide Alves Pilger, Martin Stupka) spielt Kompositionen jener Zeit. Für psychologisierendes Spiel, für einen „Lindenstraßen“-Realismus ist hier kein Platz. Artifizielle Bewegungen, große Gesten, Monologe direkt ins Publikum gesprochen, keine ironischen Brechungen – das sind die Vereinbarungen, mit denen die Darstellerinnen Archaisches, Elementares sichtbar machen.
Wenn Elektra (Dörte Lyssewski) den ermordeten Agamemnon anruft, dann spürt man, daß sie ihn wirklich vor sich sieht; so sehr zwingt die Schauspielerin uns in die Welt ihrer Figur. Und der Exzeß packt sie alle am Kragen – nicht nur die radikalen Titelheldinnen, auch deren Schwestern (beide gespielt von Pascale Schiller). Denn mag Ismene auch Mäßigung einfordern, mag Chrysotemis auch vom „normalen“ Leben mit Mann und Kindern träumen – sie tun das mit einer Heftigkeit, die dem Furor der wilden Schwestern in nichts nachsteht. So zeigt Schroeter keinen Dualismus zwischen zielfixierter Kämpferin und dem Wunsch nach „bürgerlichem“ Glück. Beides sind „zwingende“ Lebensentwürfe, um beide wird gleich hart gekämpft. Keine Wertung! Keine dialektischen Diskurse. Statt dessen: Krieg der Sehnsüchte.
Vor achtzehn Jahren sagte Schroeter in einem Interview, daß der Mensch immer an sich selber scheitert, nicht an der Gesellschaft. Da ist es konsequent, wenn Antigone (Anne Ratte-Polle) und Ismene auch den Kreon-Text sprechen. Dieser schreckliche Herrscher, der Antigone zum Tod verurteilt: Er ist keine Person „außerhalb“, sondern „in“ beiden – in jedem. Antigone wird vom Kreon-in-ihr-selbst gemordet.
Gleiches gilt für das Leid von Klytämnestra (Almut Zilscher), der Mutter Elektras. Sie ist keine kalte Mörderin ihres Mannes, auch in ihr sind Wut, Angst, Trauer. Auch sie wird von einem Geist verfolgt: „Was die Wahrheit ist, das bringt kein Mensch heraus“, weiß sie. Mit ihr hat Schroeter, der dem Christentum wegen dessen Zentrierung des Schuldbegriffs nahesteht, die stärkste Figur des Abends geschaffen. Zilscher präsentiert ihre Qual mit einer Tiefe, daß es bis in die untersten Höllen reicht. Wenn sie kurz die Hand ihrer Tochter berührt, für eine Sekunde Nähe und Versöhnung will, sie dann aber ängstlich zurückzieht – ist das nichts weniger als das Zerbrechen eines gesamten Lebens. Alle scheitern. Denn die Welt ist mit jeder echten Sehnsucht hoffnungslos überfordert.
Die nächsten „Antigone/Elektra“-Vorstellungen in der Agora der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Linienstr. 227, finden statt am 30. Juni, 3. und 12. Juli. Kartentelefon: 030 / 24 06 56 30
Foto: Ismene (Pascale Schiller) und Elektra (Dörte Lyssewski): Zwingende Lebensentwürfe