Doch nicht alles ist hier Theater! Die zweite Folge der Schubert-Edition des Baritons Matthias Goerne widerlegt und bestätigt das Vorurteil, das die erste (JF 29/08) beim Rezensenten bewirkt hatte.
Da treibt, um mit dem Schlußstück zu beginnen, ein stürmend dräuender Rittmeister-Ton zu „Willkommen und Abschied“, riecht „Über Wildemann“ in tiefen Lagen verdammt nach Schuhsohlengummi oder gemahnt der „Abschied von der Harfe“ eher nach dem von einer ausrangierten Baßtuba. Goernes Kehle können leer orgelnde Töne wie aus der Fafner-Röhre entsteigen, Töne von sonorer Onkelhaftigkeit, daß einem ganz blümerant wird.
Doch es können ihr auch wärmste, vollste, samtigste, resonanteste tiefstempfundenste Töne entsteigen, deren kein anderer der großen Baritone fähig ist. Vergleicht man Goernes Singen mit dem Chiaroscuro, dem Helldunkel, der Malerei, so schaut es wie ein Rembrandt vor der Restaurierung aus – immerhin ein Rembrandt. Goernes Problem, das nicht nur eines der Tonbildung, sondern vielmehr eines der interpretatorischen Auffassung ist, beschreibt nichts besser als der Titel dieser Doppel-CD: „An mein Herz“(Harmonia Mundi/HMC902004.05).
Die Auswahl stellt Lieder nach Gedichten von Zeitgenossen Schuberts, darunter Mitgliedern des Freundeskreises, insbesondere des unglücklichen Johann Mayrhofer, der von seinem Stubengenossen wohl mehr gewollt hatte, als dieser zu geben bereit und imstande war, Liedern nach Gedichten Goethes voran, der von Schubert nun wiederum gar nichts gewollt hatte, nicht einmal Vertonungen seiner Gedichte.
Sie singen von Liebe und Wandern und Tod, aber sie singen, Schubert hat das komponiert, von mehr. Goerne aber singt, obwohl er es doch wissen muß, nicht von mehr. Nicht das Herz des Komponisten richtet er an das des Hörers, sondern in unendlicher Verlangsamung der Tempi, seinem Markenzeichen, einzig seines an sein, des Sängers, Herz.
Intellektuelles Gestalten ist dieses Sängers Herzenssache nicht. Er greift zu illustrativen, oft sentimentalen, zuweilen kitschigen Ausdrucksmitteln, die schon einmal in unfreiwillige Parodie umschlagen, aber dann auch wieder genau den zulässigen Ton seiner Dichter mittleren Talents treffen. Er malt Wörter, gestaltet aber keine Worte und findet selten Farben für jene Zusammenhänge, in die der Komponist die Worte des Dichters gestellt hat.
Es sind die Pianisten Helmut Deutsch und Eric Schneider, die den Sänger durch den Schubertschen Liedkosmos chauffieren, Tempi vorgeben, die ihn Klangfarbe bekennen lassen, geduldig verharren, wenn er privatisiert, und diskret Welthaltigkeit beisteuern, die zu geben dem Sänger so selten gegeben ist. Indem sie Begleitung und Gesang nicht in falscher Synthese aufgehen lassen, halten sie den Raum offen, Todes- und Mittelaltersehnsucht, Melancholie und Religiosität der Dichter des Schubertkreises – die alle irgendwann im Staatsdienst landeten, aus dem kein anderes Entkommen war als aus dem Dachfenster des Amtsgebäudes direkt auf das Straßenpflaster, für Mayrhofer wenigstens – zu gestalten und einsichtig zu machen. Goerne lebt sie nur aus. Seinen Goethe nimmt er zumindest stimmlich kopfiger.
Ein hochinteressanter Zyklus ist im Entstehen. Hört man Matthias Goerne Lieder von Franz Schubert singen, dann denkt man immer über den Sänger nach und seine Art zu singen, aber immer, wenn er von Alfred Brendel, und manchmal auch, wenn er von Schneider und Deutsch begleitet wird, dann denkt man schon auch über Schuberts Lieder in Goernes Interpretationen nach und über die unsagbar süße Neige von Echtem zu Unechtem. Und darüber, wie samten eine echte Stimme klingen kann.