Der bekannte Osteuropahistoriker Karl Schlögel, seit 1994 Professor an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, hat stets unterstrichen, daß der Raum eine Grundkategorie historischer Erfahrung und Forschung sei, und in diesem Sinne eine in Raum und Zeit auf einen Punkt konzentrierte dickleibige, sehr lesenswerte Studie über das Moskau des Jahres 1937 vorgelegt. Über einen Ort in einer Zeit also, in der der Terror des stalinistischen Systems einem neuen Gipfel zustrebte, zugleich aber auch auf vielen Gebieten die ersten sichtbaren Zeichen für den Aufbau einer „neuen“ Gesellschaft gesetzt wurden. Das Buch kreist sein Thema in etwa vierzig einzelnen kleinen Kapiteln ein, um einen multiperspektivischen Blick auf die Stadt zu gewinnen, in der sich das Schicksal eines ganzen Landes entschied. Auch wenn manche Kapitel auf den ersten Blick nur von randständigem Interesse zu sein scheinen, soll dieses Verfahren ein besseres „Verstehen“ dessen ermöglichen, was das Vorwort als den „anderen Zivilisationsbruch“ in Europa bezeichnet. Wenn Schlögel dort bedauert, daß den „Opfer des anderen Zivilisationsbruch nie jene Aufmerksamkeit und Anteilnahme zuteil wurde, die man von einer Öffentlichkeit, die sich dem Horror der nationalsozialistischen Verbrechen ausgesetzt hatte, erwarten durfte“, geht es ihm aber nicht darum, die Gründe für diese „auffällige Asymmetrie“ zu ermitteln. Es ist auch nicht das primäre Anliegen des Buches, die Geschichte des Großen Terrors von 1936 bis 1938 nochmals nachzuerzählen, um so „Betroffenheit“ zu erzeugen — auch wenn eines der Kapitel den Gang zu den „Schinderhütten“ wagt, zum Schießplatz Butowo im Süden von Moskau. Schlögel will nicht von einer „asiatischen Tat“ bzw. einer „kommunistischen“ oder auch „totalitären“ Untat berichten. „Moskau 1937“ ist für ihn „ein Schauplatz der europäischen Geschichte“. Auch der „andere Zivilisationsbruch“ ist somit gerade in jener größeren europäischen Perspektive, die der herrschende Zeitgeist anempfiehlt, ebenso ein Teil „unserer“ Geschichte wie der nationalsozialistische. Die Geschichte des sowjetischen Bruchs muß in einer Weise erzählt werden, die sie als Teil unserer Geschichte erfaßbar werden läßt. Sie wird deshalb von ihm erzählt als Teil der Geschichte des spezifisch angelegten und spezifisch mißlungenen Versuchs eines „großen Sprungs“ eines bis 1917 in großen Teilen noch agrarischen, alteuropäisch strukturierten, rückständigen Landes in eine europäische Moderne. Letzteres ist der Kern des Traums, von dem der Buchtitel spricht. Schlögel hat jüngst während einer Buchpräsentation unterstrichen, daß es den meisten Moskauern nicht um die Utopie einer völlig neuen, kommunistischen Gesellschaft ging, sondern um „eine Vision, wie das Land endlich zu sich und zur Ordnung und zur Ruhe kommen soll“. Das Regime präsentierte ihnen eine solche Vision von modernem Leben in vielfältiger Weise, auf der Ebene von Film, Musik und Literatur, Konsumversprechen und touristischen Idyllen, technologischem und städtebaulichem Fortschritt, architektonischer und künstlerischer Modernisierung, wie sie in einer Vielzahl der Einzelkapitel beschrieben werden. Auch wenn dieser Traum oder genauer, die vielen Träume unzähliger Einzelner, 1937 keine Chancen hatten, Realität zu werden, gehörten sie doch zur Moskauer Wirklichkeit von 1937/38. Die bewußt genährte Illusion, ihn bald realisieren zu können, war eine Vorbedingung dafür, daß die gleichzeitig existierenden realen Härten der forcierten sozialistischen Industrialisierung, die Schlögel eingehend schildert, keine die Existenz des bolschewistischen Regimes gefährdenden Konsequenzen nach sich zogen. Daß die Herrschaft der Bolschewiki auch zwanzig Jahre nach der Oktoberrevolution von durchaus prekärer Natur war, ist eine der Prämissen des Buches, die es von der jüngeren Forschung übernimmt. Statt totalitäre Kontrolle über das Land auszuüben, waren demnach Stalin und seine Clique auch zwanzig Jahre nach der Oktoberrevolution kaum in der Lage, die knapp ein Jahrzehnt zuvor auf der Basis der mörderischen Kulakenverfolgung von ihnen selber eingeleitete Schockindustrialisierung des Landes mit ihren wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen unter Kontrolle zu halten. Der „Große Terror“, den das Regime 1937/38 sowohl gegen einen großen Teil des eigenen Staats- und Parteiapparates als auch gegen breite Teile des Volkes entfaltete und der innerhalb von 18 Monaten über 700.000 Tote kostete, gehörte zu jenen überangestrengten Versuchen, die eigene Herrschaft „um jeden, wirklich jeden Preis“ aufrechtzuerhalten. Er war die andere Seite jener Zipfel des Traums von einem modernen, menschenwürdigen Leben, die das Regime seine Untertanen träumen ließ, ohne allerdings je auch nur ansatzweise die Möglichkeit zu besitzen, diese Träume zu realisieren. Mehr angedeutet als explizit ausformuliert, bietet Schlögel damit auch ein neues Erklärungsmuster für diese Phase des stalinistischen Terrors an. Die Notwendigkeit, die eigene Herrschaft angesichts der erzeugten unerfüllbaren Erwartungshaltungen zu stabilisieren, ließ es angezeigt erscheinen, alle Defizite des Systems nicht als „objektive Mängel“, sondern als bewußte „Sabotage“ und „Schädlingstätigkeit“ auszugeben. Eine Integration der durch die revolutionären Umbrüche seit 1917 und die schockartige Industrialisierung seit Ende der zwanziger Jahre atomisierten und völlig durcheinandergewirbelten Gesellschaft war zudem nur negativ möglich durch die Präsentation von „Feinden“ der Sowjetmacht, realen äußeren und völlig irrealen im Inneren, die alles taten, um die Realisierung des großen Traumes zu verhindern. Was ursprünglich noch als machiavellistisches Kalkül gedacht war und in einer Reihe von Schauprozessen gegen exponierte Teile des Partei- und Staatsapparates in Szene gesetzt wurde, entwickelte aufgrund der durch die Wut über die real miserable eigene Lage, aber auch kalkuliert zum eigenen Aufstieg eingesetzten in der Bevölkerung vorhandenen breiten Bereitschaft zur Denunziation eine sich selbst steigernde Eigendynamik. So wurde im Zusammenspiel von oben und unten eine Verfolgungswelle in Gang gesetzt, die schließlich weite Teile des ohnehin schon miserabel arbeitenden Staats und Wirtschaftsapparates lahmzulegen drohte. Wenn Schlögel in diesem Zusammenhang davon spricht, daß die „Repressionen dem Sowjetvolk nicht von einem bösen Anderen zugefügt“, sondern „aktiv von Menschen mitgetragen und weiterverbreitet und von jeder Institution nach je eigenen Zielen ausgenutzt“ wurden, will er damit Stalin und seine Clique nicht von jeder Schuld freisprechen, sondern nur verdeutlichen, daß die von ihnen zum Zweck der rücksichtslosen Machtsicherung in Gang gesetzten Verfolgungsmaßnahmen nicht nur einen Apparat, sondern auch ein geeignetes soziales Substrat brauchten, um wirksam werden zu können. Allerdings erwies dieser soziale Boden sich zur Intensivierung der terroristischen Grundlagen ihrer Herrschaft weit „fruchtbarer“, als sich ihre Nutznießer ursprünglich vorgestellt haben mochten. Und doch waren es Stalin und das „gereinigte“ Politbüro, die Ende 1938 die von ihnen selbst entfesselte Welle des „Großen Terrors“ per Beschluß wieder stoppen konnten. Deshalb befremdet es, daß Schlögel weder der Kerngruppe des Regimes noch der eigentlichen Spinne im Netz seine Aufmerksamkeit oder gar ein eigenes Kapitel widmet. Man kann durchaus zu dem Schluß kommen, daß auch Stalin, wie es Hans Mommsen weiland über Hitler ausdrückte, „ein in mancher Hinsicht schwacher Diktator“ war, der den Tiger, den er selbst losgelassen hatte, nicht nach eigenem Gutdünken reiten konnte. Man mag auch Schlögel zustimmen, daß es in Moskau 1937 weniger um die Realisierung einer kommunistischen Utopie oder einer totalen Herrschaft ging als um die verzweifelte, bedenkenlose Herrschaftssicherung einer kleinen Clique angesichts einer im Zuge chaotischer Zwangsmodernisierung total aus den Fugen geratenen Gesellschaft. Doch ohne einen Blick auf Stalin und die inneren Machtstrukturen seines Regimes selbst zu werfen, ist die stalinistische „Lösung“ dieses Problems letztlich nicht zu verstehen. „Moskau 1937“ bietet deshalb eine Unzahl von unverzichtbaren Bausteinen zum besseren Verständnis dieses Teiles der europäischen Geschichte, doch ein wichtiger Fundamentstein fehlt. Juri Pimenow, Neues Moskau, 1937: Die Wut, an der Realisierung der Träume gescheitert zu sein Karl Schlögel: Terror und Traum. Moskau 1937, Carl Hanser Verlag, München 2008, gebunden, 812 Seiten, 29,90 Euro