Ein indischer Mythos sagt: Jedem Menschen stehen hundert Lebensjahre zu. Daß kaum einer sie erreicht, liegt daran, daß fast niemand eines „natürlichen“ Todes stirbt. Jeder, der seinen hundersten Geburtstag nicht erlebt, wurde von Geistern oder Dämonen getötet. Dieser Mythos illustriert eindringlich den Skandal des frühen Todes: des Abbrechens einer Existenz, die noch nicht zu Ende gelebt, noch nicht gesättigt war. Wo der Tod keinen ermüdeten Greis trifft, sondern junge und mittelalte Menschen um ihre Zeit betrügt, lodern Angst und Verzweiflung auf. Die Todesfurcht, so scheint es, ist letztlich Angst vor frühzeitigem Verenden. Höchst selten, daß ein Methusalem noch Panik vor dem Ende hat. Wenn nicht Lebensmüdigkeit, scheint im Alter zumindest die Gleichgültigkeit zu dominieren. Ein Zeichen dafür, daß erst jetzt das Leben „vollendet“ ist. Wenn also das Sterben vor dem hundertsten Geburtstag als Werk böser Geister verstanden wird, dann müssen diese Wesen im letzten Jahrzehnt ein wenig milder geworden sein. Ließen sie doch Menschen in ungewohnt hoher Zahl dieses magische Datum erleben. In dieser Zeit starben Prominente wie Ernst Jünger (mit 102 Jahren), Leni Riefenstahl (101 Jahre), Hans-Georg Gadamer (102 Jahre), Rudolf Arnheim (102 Jahre), Albert Hofmann (102 Jahre), ZDF-Gründungschef Karl Holzamer (100 Jahre), DDR-Schauspieler Erwin Geschonneck (101 Jahre) — oder geben sich immer noch quicklebendig wie Claude Lévi-Strauss (100 Jahre, JF 49/08) und Johannes Heesters, der an diesem Freitag seinen 105. Geburtstag feiern kann und noch immer auf der Bühne steht. All diese Beispiele stammen zwar aus der westlichen Hemisphäre, aber die ist nicht mal führend. Statt dessen marschiert Japan wieder an der Spitze des Fortschritts. Nicht nur hält es mit einem Durchschnittsalter von 85 Jahren den Weltrekord. Nein, es hat auch die Höchstzahl an Hundertjährigen vorzuweisen. 36.276 Japaner haben die Grenze zur Hundert überschritten, exakt 3.981 Personen mehr als im vergangenen Jahr. Wie bei der konventionellen Lebenserwartung sind die Frauen hier in der Überzahl. Sie stellen insgesamt 86 Prozent, also 30.000 Mitglieder im „Club der Hundertjährigen“. Aber auch in Deutschland steigt die Chance, das Leben zur hundertjährigen Vollendung zu steigern. Nach den Forschungen des Rostocker Max-Planck-Instituts feierten hierzulande zwischen 1989 und 2002 über 950 Menschen ihren 105. Geburtstag, während es 17 Personen bereits auf stolze 110 gebracht haben. Damit gibt es 45mal mehr Hundertjährige als 1960. Forscher erklären diese ansteigende Lebenserwartung durch bessere Ernährung und effizientere Medizin. Jedenfalls ist die maximale Ausschöpfung der potentiellen Lebenszeit — die Wissenschaftler auf immerhin hundertzwanzig Jahre schätzen — auf dem besten Weg zur Demokratisierung. Hohes und höchstmögliches Alter wird für immer mehr Menschen erreichbar. Dagegen gab es bislang aufgrund seiner Seltenheit dem Betroffenen ein Gefühl des „Auserwähltseins“ — das Recht, sich als Günstling der Götter zu fühlen, was dem indischen Mythos gar nicht so fern liegt. Am deutlichsten artikulierte das Ernst Jünger, Mystiker und unermüdlicher Sucher des Dämonischen. Für ihn war das Überleben von Weltkriegen und die zweimalige Wiederkehr des Halleyschen Kometen „kein Zufall“. Nein, ihm hatten die Schicksalsmächte keinen vorzeitigen Tod zugedacht. Aber auch jenseits von Mystik und Schicksalsglauben haben Hundertjährige das Charisma eines „Siegers“. Denn: Wer lange lebt, überlebt viele(s). Und wer überlebt hat, bleibt Sieger. Und lehrt die Evolution nicht das Überleben als einziges Ziel innerhalb der Natur: Überleben des Individuums und der Spezies inmitten der Hölle von Auslese und Nahrungskette? Dies und das Bewußtsein, eine oder mehrere Epochen mit Kriegen, Krankheiten und seelischer Not überstanden zu haben, wem verleiht das nicht ein Bewußtsein von Stärke? Welcher Außenstehende versagt da den Respekt? Wen wundert es also, daß Hundertjährige als „biologische Elite“ tituliert werden? Diese Elite zu studieren, um der Demokratisierung des Höchstalters Vorschub zu leisten, das haben sich die Genetiker vom Kieler Institut für klinische Molekularbiologie auf die Reagenzgläser geschrieben. Durch die Erstellung molekularbiologischer Profile von 3.000 „Überlebenskünstlern“ hoffen sie das Geheimnis des hundertjährigen Lebens zu lichten. Dies aber ist nicht nur auf genetischer Disposition begründet. Vielmehr hängt die Lebenserwartung nur zu 25 Prozent von den Genen ab. Selbst Personen, die laut genetischem Potential ein hohes Alter erwarten dürfen, können durch andere Faktoren daran gehindert werden. So richtet eine Krankheit auch potentiell Langlebige frühzeitig zugrunde. Erst ein günstiges Wechselspiel aller Faktoren ermöglicht ein hohes Alter. Aber würde ein derart verlängertes Leben nicht bloß die Phase des Siechtums und der Gebrechen verlängern? Das versuchen derzeitig britische Wissenschaftler zu verhindern, indem sie nach einem biochemischen Mittel suchen, das den Alterungsprozeß stoppt. Dabei fanden sie eine Substanz zur Blockade jener Botenstoffen, die Zellen altern lassen. Probleme mit einer künftigen Demokratisierung des Höchstalters haben — natürlich! — die Wirtschaftsliberalen. Sie sehen unbezahlbare Renten und Krankenversicherungen kommen, würden am liebsten alle indischen Geister und Dämonen zum frühzeitigen Morden anstiften, zum Wohle der Wirtschaft. Das wäre die Ultima ratio einer Ideologie, die das Volk der Ökonomie anpassen möchte und nicht umgekehrt. Es gibt auch Zeitgenossen, denen hundert oder selbst hundertzwanzig Jahre nicht reichen. Die nennen sich Immortalisten und verlangen Unsterblichkeit: wenn schon, denn schon. Aber selbst, wenn irgendwann jede Funktion des Körper reparierbar wäre, die menschliche Psyche ist für unendliche Existenz nicht eingerichtet. In Werner Herzogs „Nosferatu“ (1978) erklärt Graf Dracula dem verängstigten Jonathan Harker: „Die Zeit, das ist ein Abgrund, tausend Nächte tief. Jahrhunderte kommen und gehen. Nicht altern können ist furchtbar. Der Tod ist nicht alles, es gibt viel Schlimmeres. Können Sie sich vorstellen, daß man Jahrhunderte überdauert? Und jeden Tag dieselben Nichtigkeiten miterlebt?“ Kein Mensch würde seiner irdischen Existenz unbegrenzte Dauer wünschen. Selbst Johannes Heesters nicht, der kürzlich erklärte, er würde gern noch mal „von vorne anfangen“. Wer Ewigkeit will, kann sie nur als zeitlos-jenseitige erhoffen. Markus Hengstschläger: Endlich Unendlich. Und wie alt wollen Sie werden?, Ecowin Verlag, Salzburg 2008, gebunden, 192 Seiten, 19,95 Euro