Deutschland lag in Trümmern, bis die Türken kamen und es wieder aufbauten. Das ist offenkundiger Unsinn, auch wenn türkische Medien es unermüdlich behaupten. Dagegen gilt als unumstößliche Gewißheit, daß die Bundesrepublik im großen Stil ausländische Arbeitnehmer angeworben habe, weil dem Wirtschaftswunder die Arbeitskräfte auszugehen drohten. Die Karlsruher Wirtschafts- und Sozialhistorikerin Heike Knortz hat die Quellen befragt und kommt zu einem anderen Schluß: Die Initiative zur „Gastarbeiter“-Anwerbung ging in allen relevanten Fällen nicht von der Bundesrepublik Deutschland aus, und die Motive der Bundesregierung, dem Drängen der Entsendeländer nachzugeben, waren primär außenpolitischer und -wirtschaftlicher Art; arbeitsmarktpolitische Erwägungen und die Interessen der Wirtschaft traten erst später hinzu. „Diplomatische Tauschgeschäfte“ — so der Titel von Heike Knortz Studie — waren bereits dem ersten Anwerbeabkommen mit Italien vorausgegangen. Das Drängen Italiens auf Entsendung heimischer Arbeitskräfte nach Deutschland hatte Bonn in den bilateralen Wirtschaftsgesprächen seit 1953 zunächst überrascht. Italien wollte durch die Heimatüberweisungen italienischer Arbeitskräfte aus Deutschland das eigene Zahlungsbilanzdefizit verringern und nutzte dazu bereits bestehende europäische Mechanismen. Das Auswärtige Amt setzte sich in der Folge bei allen weiteren Anwerbeabkommen als Verhandlungsführer gegen das zögernde Bundesministerium für Arbeit durch, das den anfänglichen Widerstand der Gewerkschaften gegen die Anwerbung unterstützte. Die Rivalität zwischen Außen- und Wirtschaftsministerium einerseits und dem Arbeitsministerium andererseits verhinderte in der Folgezeit jede einheitliche politische Konzeption. Dem italienischen Wunsch wurde entsprochen, nicht zuletzt um die europäische Integration voranzutreiben. Knortz betont, die deutsch-italienische Anwerbevereinbarung von 1955 sei eine „unmittelbare Folge“ der wirtschaftlichen Westintegration, „die im vorliegenden Fall von westdeutscher Seite weniger einem durchdachten außenpolitischen Kalkül als den Mechanismen der bis dato bereits geschaffenen Institutionen zu danken ist“. Darin darf man getrost eine Konstante bundesrepublikanischer Außenpolitik erkennen. Arbeitskräftemangel spielte zu diesem Zeitpunkt noch keine vorrangige Rolle. Ein Bericht des Arbeitsministeriums aus demselben Jahr 1955 zur „Sicherstellung des notwendigen Kräftebedarfs für die Wirtschaft“ gab der Ausschöpfung vorhandener Potentiale klaren Vorrang vor einer eventuellen Anwerbung im Ausland. Die Förderung der Frauenbeschäftigung, allerdings halbtags, und der Wiedereingliederung Älterer stand bereits damals auf dem Programm. Die Anwerbeabkommen mit Griechenland und Spanien, die kurz nach Italien anklopften, mit Portugal, Marokko, Tunesien und der Türkei folgten ähnlichen Mustern. Die Regierungen, die dem westdeutschen Wirtschaftswunder ihre Arbeitskräfte aufdrängten, wollten ihre Devisenbilanz mit der exportstarken Bundesrepublik verbessern, ihre eigenen Arbeitslosen unterbringen oder, wie im Fall Griechenlands, später qualifiziert zurückbekommen oder aber bereits im Gange befindliche Abwanderungsprozesse kanalisieren. Das deutsche Interesse wiederum richtete sich zunächst auf die Wahrung guter Handelsbeziehungen. Im Falle Jugoslawiens ging es um gute Beziehungen zu einem wichtigen „Blockfreien“ im Ost-West-Konflikt; die Aufnahme von Arbeitskräften erschien als Ausweg, um trotz der Ablehnung von Wiedergutmachungsforderungen — denen man wegen des Alleinvertretungsanspruchs nicht nachkommen wollte (Belgrad unterhielt Beziehungen auch zur DDR) — dem vom Westen geschätzten Tito näherzukommen. Daß dem besonders skeptisch aufgenommenen türkischen Wunsch nachgegeben wurde, lag schließlich am übergeordneten Ziel, einem geschätzten Nato-Partner und — damals schon — EWG-Aspiranten entgegenzukommen. Interessant wäre zu erfahren, inwieweit US-amerikanischer Druck gerade in diesen beiden Fällen den Entscheidungsgang beeinflußte. Nachdem in Deutschland spätestens seit Ende der fünfziger Jahre Vollbeschäftigung herrschte, rief auch die Wirtschaft nach ausländischen Arbeitskräften. Ihr zuliebe verzichtete man auf eine anfänglich erwogene Rotation zeitlich begrenzt anzuwerbender ausländischer Arbeitskräfte und verwarf auch alle Überlegungen, eine Obergrenze für die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer zu ziehen. Familienzusammenführung war zunächst wegen der herrschenden Wohnraumknappheit nicht vorgesehen und wurde erst später eingeführt, wobei vor allem türkische Stellen früh versuchten, „mit orientalischer Behördenmentalität in ihrem Sinne Fakten zu schaffen“ (Knortz) und beispielsweise ihre Konsulate kurzerhand auch Frauen und Kinder in die mit einem Visum versehenen Pässe der angeworbenen Arbeitnehmer eintragen ließen. Lohndumping war von Anfang an ein auch politisch durchaus erwünschter Nebeneffekt. Franz Josef Strauß machte sich schon 1955 im Kabinett für die Ausländeranwerbung stark, weil man damit höhere Lohnforderungen der Gewerkschaften abwehren könne, die mit dem knappen Arbeitskräfteangebot begründet werden könnten. Auf der Negativseite steht, daß das reichliche Angebot billiger Arbeit den Kapitaleinsatz für Rationalisierungen unattraktiv machte und die Arbeitsproduktivität und Kapitalintensität der deutschen Wirtschaft herabsetzte. Darin liegt nach Knortz eine Ursache für die Rezession Ende der Sechziger und die Wirtschaftskrise der Siebziger. Der breite gesellschaftliche und gewerkschaftliche Widerstand gegen Rationalisierungen und Automatisierungen verursachte einen Modernisierungsstau, dessen Behebung mit erhöhter Arbeitslosigkeit vor allem der zu vielen Ungelernten bezahlt werden mußte. An den sozialen Folgelasten tragen Staat und Gesellschaft bis heute. Und bis heute haben die Verantwortlichen aus den Fehlern der Anfangszeit nichts gelernt. Heike Knortz: Diplomatische Tauschgeschäfte. „Gastarbeiter“ in der westdeutschen Diplomatie und Beschäftigungspolitik 1953—1973. Böhlau Verlag, Köln 2008, broschiert, 248 Seiten, 32,90 Euro