Opulent ausgestattete Kinosäle, die Leinwände in ein gleißend-weißes Licht getaucht, das noch das Publikum verschluckt: Solche Bilder waren in der jüngst in der Berliner Neuen Nationalgalerie zu Ende gegangenen Retrospektive des Fotografen Hiroshi Sugimoto zu sehen. Entstanden sind sie, indem der Künstler, der seine Kamera als philosophisches Instrument zur Vermessung der Welt und ihres Wesens benutzt, in einer einzigen Endlos-Blende einen ganzen Spielfilm fotografierte. Als Sinnbilder der Reizüberflutung versteht er selber sie, die aber auch daran erinnern, aus welchem Material ein Regisseur seine Werke schafft: aus purem Licht. Ein waghalsiges, geradezu paradoxes Projekt also, das Fernando Meirelles mit der Verfilmung von José Saramagos Roman „Die Stadt der Blinden“ (1995) anging. Frühere Kinoerfolge des Brasilianers wie „City of God“ (2002) oder „Der ewige Gärtner“ (2005) betörten und verstörten gerade durch ihre grelle Farbenfreude, durch ihr Zuviel an Sinneseindrücken. Was aber, wenn das Vermögen zu deren Wahrnehmung urplötzlich versagt? Wie läßt sich der Verlust des Augenlichts visuell darstellen — nicht als tragisches Einzelschicksal, sondern als Seuche, die mit rasanter Geschwindigkeit eine ganze Stadt infiziert? Literaturnobelpreise gibt es nicht für Horrorfantasien — nein, die Blindheit, die Saramago meint, ist eine metaphorische, wenn nicht gar metaphysische: die Unfähigkeit, die Dinge wirklich zu durchschauen, die Weigerung, den anderen als Menschen anzublicken. Im Film bewegen seine namenlosen Figuren sich durch eine überbelichtete Welt, die wiederum an Sugimotos leuchtende Leinwände erinnert — sie scheinen gar nicht so sehr erblindet als vielmehr geblendet. Die schauspielerische Herausforderung, mit offenen Augen ihre Umgebung nicht zu sehen, meistert die internationale Besetzung aus Hollywood, Europa, Brasilien, Japan indes auch in turbulenten oder emotionalen Szenen souverän. Geprobt wurde, wie dem Presseheft zu entnehmen ist, zunächst mit Augenbinden, die sich aber bald als überflüssig erwiesen. „Die Stadt der Blinden“ wird hier zum Katalog zeitgenössischer Ängste: vor der Ansteckung durch zwischenmenschliche Berührungen, vor der erbarmungslosen Willkür der Staatsgewalt und, noch weniger subtil, vor allerhand unsichtbaren Bedrohungen. Saramagos Allegorie verfilmt Meirelles als Mischmasch aus apokalyptischem Katastrophenszenario und anachronistischem Emanzipationsdrama. Daß in den USA prominente Blindenverbände wegen der Darstellung blinder Menschen als „inkompetent, schmutzig, niederträchtig und sittlich verkommen“ zu Protesten gegen seinen Film aufriefen, hat er freilich nicht verdient. Unter den Blinden ist bekanntlich die Einäugige Königin, und diese Rolle übernimmt hier Julianne Moore als letzte Sehende. Die Arztfrau stach zuvor nicht eben durch Führungsqualitäten hervor, wächst aber in der Krise über sich selbst hinaus, während ihr Mann (Mark Ruffalo) an seiner ungewohnten Hilflosigkeit mehr leidet als an der mysteriösen Krankheit. Die Entwicklung vom Frauchen an seiner Seite zur Hüterin über Wohl und Wehe einer ganzen Gemeinschaft, ein eher melodramatisches Rührstück bis hin zum bittersüßen Happyend, spielt Moore so nuanciert und überzeugend wie immer. Um die Ausbreitung des Virus einzudämmen, werden die bereits Erkrankten in einer baufälligen Heilanstalt interniert. Bis auf regelmäßige Lebensmittellieferungen und eine ständige militärische Überwachung überläßt man sie dort ihrem Los. Von weiteren Epidemien (Cholera, Typhus etc.), wie sie unter den herrschenden hygienischen Bedingungen unweigerlich ausbrechen müßten, bleiben die Insassen zwar verschont. Dafür kann sich die Natur des Menschen in ihrer ganzen Bösartigkeit, Habgier und Machtgeilheit entfalten, verkörpert hier in der Person eines Barkeepers (Gael García Bernal), der sich zum despotischen Herrscher ernennt, seine Mitgefangenen tyrannisiert und schließlich eine Massenvergewaltigung inszeniert, die um so schwerer zu ertragen ist, als der Kinozuschauer daran in dem voyeuristischen Unbehagen teilhat, ihr alleiniger Augenzeuge zu sein. Statt der Wirkung solcher Szenen zu trauen, durchbricht Meirelles die klaustrophobische Perspektive der Eingesperrten mit Ausblicken auf den weltweiten Ausnahmezustand — und erspart so dem Publikum den Schock, der die Überlebenden erwartet, als sie endlich merken, daß ihre Bewacher längst alle Posten geräumt haben. Draußen tragen die Überlebenden wüste Verteilungskämpfe inmitten der Trümmer ihrer Zivilisation aus. Auch hier bescherte die plötzliche Erblindung offensichtlich niemandem ein Saulus-Erlebnis. Als einzige Lichtgestalt weiß die Frau des Arztes einen Heilsweg und öffnet ihrem kleinen Trupp von Erlösten die Türen zum eigenen Haus. Am Ende siegt dann doch das Melodram über den Seuchen-Schocker: Daß im nächsten Jahr die Fortsetzung „Blindness 2 — Die Stadt der Tauben“ folgt, ist daher unwahrscheinlich. Foto: Julianne Moore (M.) als letzte Sehende inmitten der Blinden: Ein Katalog zeitgenössischer Ängste