Mit der Premiere des Max-Frisch-Dramas „Andorra“ hievte das Hamburger Schauspielhaus ein Stück in seinen Spielplan, das nach wie vor brisanter und aktueller nicht sein kann. Wenngleich auch aus einer völlig anderen Perspektive als seinerzeit: „Andorra“ ist nicht (mehr) Anklage. Dieses „Andorra“ (das überall auf der Welt zu jeder Zeit existieren kann) zeigt sich vielmehr als etwas abgemagertes Gespenst, das dennoch furchterregend durch die Welt geistert, um zu warnen. Regisseurin Tina Lanik, die hier erstmals am Schauspielhaus inszenierte, nahm den Autor partiell sehr ernst, was sie jedoch nicht daran hindern konnte, Handlung und Geschichte des unglücklichen Andri bisweilen doch allzusehr auf eine komödiantische Schiene zu bringen. Ob man nun will oder nicht: „Andorra“ fordert uns thematisch immer noch heraus. Ist immer noch Synonym für etwas, das es zu allen Zeiten gab, gibt und geben wird. Es ist das Drama zwischen denen, die einfach anders sind, und jenen, die das Anderssein des anderen beargwöhnen, fürchten, beneiden, bekämpfen und schließlich zerstören. „Andorra“, das ist auch der ewige Jude unter und in uns selbst, den wir Deutsche geschändet haben. Und es ist die traumatische Erinnerung an eine Schuld, mit der umzugehen wir auch deshalb immer noch nicht gelernt haben, weil wir nicht wahrhaben wollen, daß wir unsere Schuld längst abgetragen haben – nämlich durch die Einsicht, nie wieder zuzulassen, was einst in „Andorra“ (also in Deutschland zwischen 1933 und 1945 und danach mehrfach auf der Welt) geschehen ist. Mag eine Theater-Inszenierung den Zuschauer emotional und höchst unterhaltsam mitunter in eine völlig andere Richtung locken als vom Autor beabsichtigt (die Regie führte alle Darsteller durchweg mit leichter Hand in eine kammermusikalische Burleske, in der große Betroffenheit kaum auftreten konnte), so wird in dieser Inszenierung dennoch eines deutlich: „Andorra“ ist stets überall und nirgendwo. „Andorra“ ist also eine Allegorie, im weitesten Sinne eine an unser Bewußtsein pochende Parabel, die uns aufmerksam machen soll auf etwas, das jederzeit in uns aufbrechen und um uns herum geschehen kann: Die Inszenierung des Bösen, an deren Ende der Tod eines einzelnen oder ganzer Völker stehen kann. „Andorra“ ist also der ständige Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen den Feigen und den Mutigen, zwischen jenen, die sich bekennen, und denen, die sich und andere zu allen Zeiten an allen Orten in allen nur denkbaren gesellschaftlichen, ideologischen, konfessionellen und nationalistischen Konstellationen stets verraten: für dreißig Silberlinge und weniger, aus Charakterschwäche, aus Verblendung, aus Haß oder aus Rache. „Andorra“, das ist der Mensch ohne Maske, ist auch kleinbürgerliche Idylle, deren moralisches Fundament oftmals nur Selbsttäuschung und sinnentleertes Dasein ohne Entrinnen ist, Entrinnen aus der Hölle des eigenen verbogenen Ichs. Tina Lanik erzählt das tragische Schicksal des Andri (auf beklemmende Weise von Thiemo Strutzenberger personifiziert) ohne inszenatorische Mätzchen, verzichtet weitgehend auf tiefenpsychologische Überfrachtung der Charaktere, läßt „das Spiel laufen“, wobei lediglich einige Filmeinblendungen keinen rechten dramaturgischen Sinn ergeben. So stürzt sich zum Beispiel Andri zum Finale ins Meer (man erblickt Andris Leichnam von Wellen umspült, dazwischen wedeln Alpenblumen im Abendwind). Irgendwann einmal ist das Spiel dann zu Ende. Ein vorzügliches Ensemble half schauspielerisch virtuos mit, über diesen Abend, über dieses zeitlose Thema nachzudenken. Denn: Wenn auch die Jahre vergangen sind, so hat Max Frisch ein zeitloses Drama geschrieben, das Drama des Menschen schlechthin, über dessen schicksalhafte Verstrickung in alles, was Leben, Tod, Anfang und Ende heißt. Gestern, heute, morgen. Vielleicht war es kein bedeutsamer, so doch ein guter Theaterabend. Die nächsten Aufführungen finden statt am 5., 17. und 28. April, jeweils um 20 Uhr, im Deutschen Schauspielhaus Hamburg, Kirchenallee 39. Tel: 040 / 2 48 71-3 Foto: Andri (T. Strutzenberger) und Barblin (M. Leuenberger)
- Deutschland