Die meist als tragisch gewertete Figur Heinrich Brünings (1885-1970) ist untrennbar mit dem Ende der Weimarer Republik verbunden. Sein Präsidialkabinett vom 30. März 1930 bis zum 30. Mai 1932 wird als Meilenstein auf dem Weg in die autoritäre Diktatur angesehen, da es ohne parlamentarische Mehrheit versuchte, die Staatskrise mittels Notverordnungen in den Griff zu bekommen. Brünings Rolle als Politiker der Weimarer Zeit war Gegenstand des ersten Bandes der voluminösen Biographie (Brüning – Kanzler in der Krise der Republik. Eine Weimarer Biographie. Schöningh Verlag, Paderborn 2000, 876 Seiten, gebunden, 58,00 Euro), deren zweiten Band der Dortmunder Historiker Herbert Hömig nun vorlegt. Damit wird der Blick auf jene Zeit gelenkt, in der Brüning das, was er tun konnte, bereits getan hatte, ohne daß die Nachwelt dies besonders gewürdigt hätte. Man mag sich fragen, welchen Erkenntniswert es haben soll, das Leben eines gescheiterten Politikers en detail nachzuzeichnen, nachdem dieser sein Amt als Reichskanzler und entsprechend an Einfluß verloren hatte, jedenfalls keinen nennenswerten gestalterischen Einfluß mehr zu gewinnen vermochte. Hömig gelingt es jedoch, plausibel zu machen, daß die Politik und das Wirken Brünings im Ganzen erst aus dem Blick auf die zweite Lebenshälfte zu einem Abschluß gebracht wird. Hömigs Biographie setzt im vorliegenden zweiten Band mit der Zeit nach seiner Kanzlerschaft ein, schildert dabei in extenso die doch im wesentlichen jedem Interessierten bekannte Geschichte des Endes der Weimarer Republik. Indes ist der Leser angesichts der enormen Detailfülle, die Hömig über ihm ausschüttet, stets in Gefahr, den roten Faden, nämlich Brünings Wirken und Schaffen, aus den Augen zu verlieren, und gewinnt den Eindruck, das politische Tagesgeschäft sei in dieser Darstellung mikroskopisch genau, ja allzu genau her-auspräpariert. Der größte Teil des Buches, gut 300 Seiten, sind dem Exil nach 1934 gewidmet, der Flucht über die Schweiz in die USA, den Versuchen, als Politikwissenschaftler in Oxford und Harvard Fuß zu fassen, den Kontakten mit Goerdeler und vielem anderem mehr. Brünings durchaus interessante politische Philosophie befaßte sich auch in der Zeit des Exils mit dem Thema „Führung und Gefolgschaft in der Demokratie“. Zwar sah er die Demokratie als dem Faschismus überlegen an, ohne aber die Kritik des Faschismus an der Führungsschwäche in der Nachkriegsdemokratie nach 1918 auf die leichte Schulter zu nehmen. Brünings Verteidigung der Demokratie gegen totalitäre Bestrebungen war sicher verdienstvoll – unklar bleiben aber auch nach Hömigs Ausführungen die politischen Präferenzen Brünings, der in seinen spät erschienenen Memoiren behauptet hatte, er habe sich als Reichskanzler für die Wiedereinführung der Monarchie eingesetzt. Als Katholik beurteilte Brüning die Konkordatspolitik des Vatikans gegenüber dem Dritten Reich als höchst fatal. Zwar forderte er eine Orientierung der Politik an Grundsätzen der christlichen Tradition, doch wußte er als Realist auch, daß die Politik niemals die „höchsten sittlichen und religiösen Ideale wie die der Bergpredigt verwirklichen“ könne. Sympathisch berührt Hömigs Bestreben, auch dem gescheiterten Staatsmann die Achtung nicht zu versagen, denn es wäre immerhin möglich gewesen, daß Brüning im Erfolgsfalle Hitlers Herrschaft hätte verhindern können. Nach dem Krieg kehrte Brüning nach Deutschland zurück und erhielt in Köln eine Professur für Politische Wissenschaft, die er jedoch nicht voll auszufüllen vermochte. Auch blieb Brüning in seinem politischen Denken den Grundfragen der Weimarer Jahre verhaftet, so daß er trotz einiger eigenständiger Ideen keine größere Wirkung mehr erlangen konnte – abgesehen davon, daß er für sich selbst eine aktive Rolle in der Nachkriegspolitik strikt ablehnte. Hömig zeigt, wie Brünings Denken davon ausging, daß auch nach dem Krieg Deutschland nach einer vorübergehenden Teilung seine geopolitische Bedeutung wiedererlangen würde. Brünings Zielvorstellungen richteten sich auf die Erhaltung der Freiheit des Abendlandes und auf die Einheit Deutschlands. Zurückhaltend war Brünings Einschätzung der Nürnberger Prozesse und der einsetzenden Vergangenheitsbewältigung – für ihn ging es nicht um die (Mit-)Verantwortung des ganzen deutschen Volkes, sondern um die individuelle Bestrafung von Schuldigen einschließlich der Verbrechen, die von Angehörigen anderer Völker begangen worden sind. Bedenklich erschien ihm eine Propaganda, die zur Demoralisierung führen könnte: „Kein Volk, dem täglich eingehämmert wird, wie vollkommen verderbt und unmoralisch es gewesen ist, kann überleben.“ Hömigs Werk ist hoch informativ, aber leider zu stark mit zahllosen Einzelinformationen überfrachtet, als daß es eine packende Brüning-Darstellung aus einem Guß bieten könnte. Das Buch wird so sicher gute Dienste als Nachschlagewerk leisten; als Erzählung aber kann es nicht befriedigen und vermag so auch keinen nachhaltigen Wandel im Brüning-Bild zu bewirken. Herbert Hömig: Brüning – Politiker ohne Auftrag. Zwischen Weimarer und Bonner Republik. Schöningh Verlag, Paderborn 2005, gebunden, 848 Seiten, 68 Euro Foto: Heinrich Brüning (l.) 1950 mit Jakob Kaiser, damals Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen: Keine aktive Rolle mehr in der Politik