In der Tat, Jean Raspails Buch „Das Heerlager der Heiligen“ ist wahrhaftig dick aufgetragen, man kann es zudem als übertrieben angsteinflößend bezeichnen, provokant sowieso, und von der Warte der politischen Korrektheit ist vielleicht den Vorwurf zu verstehen, der Roman bediene in der Beschreibung der indischen Einwanderermassen fremdenfeindliche oder gar rassistische Muster. Doch ungeachtet dieser Vorwürfe erkennt man heute viele Szenarien der „Vision“ des französischen Schriftstellers aus den frühen siebziger Jahren wieder, wenn er eine sich auflösende Gesellschaft unter dem Druck einer Massenmigration beschreibt – ähnlich derer des Briten George Orwell und seiner Prognose des totalen Überwachungsstaates. Gerade diese Übereinstimmungen machen Raspails millionenfach und in mehreren Sprachen verbreiteten phantastischen Roman von 1973 zum politischen Buch des Jahres 2006. Nicht ohne Grund wurde in den Feuilletons ausgerechnet in jenen Momenten des Werkes mit dem Originaltitel „Le Camp des saints“ gedacht, als Menschenmassen die Zäune der spanischen Enklaven Ceuta und Melilla stürmten, afrikanische Elendsgestalten in klapprigen Seelenverkäufern die Küsten Siziliens und der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusas anliefen oder in französischen Banlieues die Vision der multikulturellen Gesellschaft in Flammen aufging. So verwundert es auch nicht, daß der Verlag die vor über zwanzig Jahren auf deutsch erschienene Version in diesem Frühjahr neu präsentiert, um die „blinden und tauben Kleinbürger“ in Deutschland genau wie in Frankreich aufzurütteln. Denn diese, so Raspail im Vorwort der aktuellen Ausgabe, schielten immer noch gern „auf den allernächsten Nachbarn“, um in moralischer Vollkommenheit und von christlicher Nächstenliebe durchdrungen „Laßt die Reichen zahlen!“ zu seufzen. Doch jene, die „auf fetten westlichen Wiesen schreiten“, scheinen nicht zu ahnen, daß sie selbst die Reichen sind und daß „dieser Schrei nach Gerechtigkeit, dieser Schrei aller Revolten, von Milliarden Stimmen ausgestoßen“ eben gegen sie selbst gerichtet sein wird, sobald er sich erhebt. Nicht Milliarden, sondern Millionen stoßen in Raspails Vision diesen Schrei aus, um sich aus ihrem hoffnungslosen Elend im indischen Kalkutta nicht mehr mit Brosamen des Westens zufriedenzugeben, sondern direkt den Weg „in das Land, wo Milch und Honig fließen“, zu beschreiten. Und während sich die Masse vom Ganges mit einer erbarmungswürdigen Flotte auf den wochenlangen Weg macht, bereitet sich „der Westen“ auf „seine Gäste“ vor. Obwohl alle angsterfüllten Repräsentanten klammheimlich hoffen, die Armada des Elends möge nicht an den eigenen Gestaden landen, überbieten sich die „Multiplikatoren“ der „zivilisierten Staaten“ förmlich darin, die kommende „kulturelle Bereicherung“ zu preisen. Nicht nur für die verschiedenen tonangebenden Charaktere in Frankreich scheint damit die Erlösung aus der „Schuld der eigenen Gesellschaft“ endlich wahrhaftig zu werden – sei es der linke Starjournalist Clément Dio, sein vor linksliberalem Gutmenschentum überfließender Kollege Boris Vilsberg oder eben nur die Politiker des Pariser Kabinetts und die Gewerkschaften. Alle Institutionen haben bald daran Anteil, Schüler schreiben Aufsätze gegen Rassismus und organisieren spontane Demonstrationen für die Hindus, Schauspieler, Fernsehsender stiften Beiträge und guten Willen. Natürlich sind auch die Kirchen, die sich seit langen Jahren nur noch als karitative Organisationen gebären, unbedingte Streiter für die die gesamte Gesellschaft umfassende Kampagne „Wir sind alle Menschen vom Ganges“. Der Papst an der Spitze der Katholischen Kirche (der imaginäre Stellvertreter heißt bei Raspail tatsächlich Benedikt XVI.!), die schon nach dem „III. Vatikanischen Konzil“ all ihre weltlichen Güter an die Armen der Welt verschenkte, hat sich durch die neue Armut allerdings auch des politischen Gewichtes entledigt. Nur den Protestanten, die ihre Liebe zu Nächsten mit so viel Energie praktizieren, daß für das Eigene nur noch Haß und Verachtung übrigbleibt, gelingt es noch, den Diskurs weiterhin mit zu leiten. Die „öffentliche Meinung“ – bis auf eine unbedeutende rechte Zeitung, die man um des Anscheins einer Pluralität wegen noch ihr Dasein fristen läßt – ist schließlich vom Klima durchdrungen, Hunderte mit Menschen überfüllte Schiffe anzunehmen, die dem Erlöser gleich ausgerechnet am Ostersonntag in der Provence anlanden. Selbst das alternde Ehepaar in Paris liefert seinen Beitrag und ist zu dieser österlichen Stunde bereit, sein Gewissen zu befreien und endlich seine geräumige Wohnung gegen das beengte Dachgeschoß der vielköpfigen Einwandererfamilie aus Nordafrika zu tauschen. Obwohl im letzten Augenblick Zweifel der Regierenden reifen, der nach Strapazen und Entbehrungen der Überfahrt auf 800.000 „Menschen vom Ganges“ geschrumpften Masse das Betreten Südfrankreichs zu erlauben, hat die Selbstaufgabe der Mehrheit schon Fakten geschaffen. Die Provence hat sich bereits in einer Völkerwanderung Richtung Norden entleert. Auch das zur Abriegelung der Küste abkommandierte Heer verweigert den Befehl und desertiert. Die Neuankömmlinge nehmen ihr Land schließlich in Besitz und gestalten es nach ihren Vorstellungen um, verbliebene Franzosen werden verdrängt, sogar ermordet und ihre „weißen Frauen“ aus Rache für jahrhundertelangen Rassismus in Bordellen gehalten. Der Frisör aus Saint-Tropez, dessen Leitspruch „Es gibt keine Hindus mehr, es gibt keine Franzosen mehr. Es gibt nur noch Menschen, und darauf kommt es an“ zuvor in einem nationalen Wettbewerb ausgezeichnet wurde, endet in der panikartigen Flucht seiner Landsleute als achtlos von Tausenden Fahrzeugen überrollter Körper auf einer Ausfallstraße. Auch Boris Vilsberg und Clément Dio werden in jener Mühle der Anarchie blutig zermahlen, die sich nach der Ostererlösung etabliert – ebenso wie das letzte Häuflein der als Rassisten und Nationalisten Geschmähten, die vor den Konsequenzen der Gangesinvasion gewarnt hatten und gegen die von einem extremistischen Humanismus beförderte Selbstaufgabe der Nation eintraten. Ihr kläglicher militanter Widerstand verpufft ohne nennenswerte Folge. Besonders der von Raspail karikierte Mechanismus, mittels dessen die gesellschaftliche Resignation als politisches Leitmotiv propagiert und kampagnenhaft transportiert und schließlich gegen den ursprünglichen Willen vieler zur „öffentlichen Meinung“ wird, erschreckt durch seine gegenwärtigen Analogien. Aber wahrscheinlich wird dieses heute vorherrschende Postulat der Schwäche und der Kapitulation in einem Europa des Jahres 2040, in denen die Autochthonen dann nur mehr eine alt gewordene Minderheit ausmachen werden, im Rückblick allenfalls noch schrullig wirken. Jean Raspail: Das Heerlager der Heiligen. Eine Vision. 2. Auflage, Hohenrain Verlag, Tübingen 2006, broschiert, 272 Seiten, 17,80 Euro