Im Frühjahr 2004 veröffentlichte Konrad Löw, emeritierter Politologieprofessor an der Universität Bayreuth, im renommierten Deutschland-Archiv einen Artikel zum Thema „Deutsche Identität in Verfassung und Geschichte“. In diesem Beitrag bemühte sich Löw um ein differenziertes Verständnis des Verhaltens gegenüber den jüdischen Mitbürgern in Deutschland. Dabei ging er insbesondere der Frage nach, ob „die“ Deutschen den politischen Leitlinien der Nationalsozialisten als „willige Helfer“ folgten. Löw widersprach dieser Auffassung. Er berief sich dabei auf den konservativer Neigungen unverdächtigen jüdischen Hochschullehrer (bis 1933) Victor Klemperer, einen sorgfältigen Chronisten des jüdischen Lebens und Leidens zwischen 1933 und 1945, der das Dritte Reich überlebt hatte. In seinen acht Bände umfassenden Tagebüchern vermittelt er ein von der vorherrschenden Meinung abweichendes Bild vom deutschen Alltag in dieser Zeit, was unter anderem in der von Löw zitierten Feststellung zum Ausdruck kommt, „daß auf einen (Hitler-) Gläubigen doch wohl fünfzig Ungläubige kamen“. Dieser Beitrag hat heftigen Protest ausgelöst, und zwar weniger seitens der Leser, sondern seitens des Herausgebers (Bundeszentrale für politische Bildung) und des Verlages (Bertelsmann). Bereits wenige Tage nach der Auslieferung distanzierten sie sich „aufs schärfste“ von des Ausführungen Löws und entschuldigten sich in einem Brief an alle Abonnenten vorsorglich bei denjenigen Lesern, „welche sich durch den Beitrag Konrad Löws verunglimpft fühlen“. Die Ernsthaftigkeit dieser Entschuldigung wurde durch die Zusage unterstrichen, daß der Rest der Auflage „makuliert“, das heißt vernichtet, werde. Mit der Erinnerung an dieses aufschlußreiche Lehrstück unserer wissenschaftlichen und politischen „Streitkultur“ ist das Thema der jüngsten Veröffentlichung Konrad Löws angesprochen. Es geht ihm nicht darum, um gleich eingangs dem üblichen Generalverdacht zu begegnen, einwandfrei belegte Tatsachen zu leugnen oder zu relativieren. Ganz im Gegenteil! Er stellt fest, daß trotz der kaum noch überschaubaren Literatur zum Thema Judenverfolgung seit 1945 bemerkenswerte Tatsachen gar nicht oder nur wenig beachtet worden sind. Dazu gehören Urteile jüdischer Zeitzeugen, die der These widersprechen, daß „die“ Deutschen als „Tätervolk“ Hitlers Judenpolitik bejaht, zumindest aber gebilligt hätten. Im ersten Teil seines Buches dokumentiert Löw aus dem literarischen Nachlaß von etwa fünfzig jüdischen Zeitzeugen eine Fülle von Episoden aus dem deutschen Alltag der Jahre 1933 bis 1945, die auf den ersten Blick – aber eben nur auf den ersten Blick! – als belanglose Einzelfälle abqualifiziert werden könnten. Tatsächlich fügen sie sich jedoch wie Mosaiksteinchen zu einem plastischen Panorama zusammen, das einen überzeugenden Eindruck vom Leben im Dritten Reich vermittelt, „wie es eigentlich gewesen ist“. Manches war eben doch „anders, ganz anders“, wenn man nicht nur die offiziellen Dokumente, Reden und Proklamationen, Gesetze und offiziellen Berichte berücksichtigt, sondern auch Briefe und Tagebücher, Lebenserinnerungen und Interviews, in denen Juden Erlebnisse im Umgang mit Deutschen schildern: sei es in der Nachbarschaft oder am Arbeitsplatz, im Bekanntenkreis oder in den Verkehrsmitteln, in Schulen und selbst in staatlichen Behörden. Besondere Aufmerksamkeit widmet Löw dabei den Reaktionen „des deutschen Normalbürgers“ auf spektakuläre Kampagnen gegen die Juden – sei es die sogenannte Reichskristallnacht 1938, die Einführung des Judensterns 1941 oder die Deportationen ab 1941. Eine Einschätzung dazu ist Klemperers Tagebucheintragung vom 4. Oktober 1941 zu entnehmen: „Fraglos empfindet das Volk die Judenverfolgung als Sünde“. Dieses Urteil ist nicht nur von vielen jüdischen Zeitzeugen bestätigt worden, sondern auch von maßgebenden NS-Politikern. So beklagte sich Joseph Goebbels in einem Schreiben an Hitler, daß „die Einführung des Judensterns genau das Gegenteil von dem bewirkt (habe), was erreicht werden sollte, mein Führer. Wir wollten die Juden aus der Volksgemeinschaft ausschließen. Aber die einfachen Menschen meiden sie nicht; im Gegenteil, sie zeigen überall Sympathie für sie. Dieses Volk ist einfach noch nicht reif und steckt voller Gefühlsduseleien.“ Vor dem Hintergrund dieser sehr unterschiedlich motivierten Urteile über das Verhalten „der“ Deutschen gegenüber den verfolgten Juden gelangt Löw zu dem Ergebnis, daß „die Mehrheit der Deutschen Hitlers brutale Judenpolitik nicht bejaht hat“. Damit ist nicht gesagt, daß es nicht viele Beispiele für das „Wegschauen“ aus Angst vor eigener Verfolgung gegeben hat. Aber „Wegschauen“ bedeutet nicht automatisch „Bejahung“. Löw markiert mit diesem Ergebnis einen deutlichen Widerspruch zu einer immer noch verbreiteten Vorstellung in unserer politischen Bildung, mit der er sich im zweiten Teil seines Buches auseinandersetzt. Es geht ihm also nicht um eine bloße „Zitatologie“, um eine Aufrechnung von Aussagen „Pro“ und „Contra“, sondern um die Berücksichtigung aller verfügbaren Zeugnisse im Prozeß der wissenschaftlichen und politischen Urteilsbildung. Damit leistet er nicht nur einen Beitrag zur Klärung einer noch immer umstrittenen Frage der zeitgeschichtlichen Forschung, sondern darüber hinaus – vielleicht noch wichtiger – zur Besinnung auf einstmals selbstverständliche akademische Mindeststandards. Konrad Löw: „Das Volk ist ein Trost.“ Deutsche und Juden 1933-1945 im Urteil der jüdischen Zeitzeugen. Olzog-Verlag, München 2006, 384 Seiten, gebunden, 34 Euro
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