Betrachtet man die neueren Wiederentdeckungen von Philosophen der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts – Georg Simmel und Walter Benjamin als Vordenker der cultural studies oder Oswald Spengler als Prophet des „Kampfs der Kulturen“ -, so fällt auf, daß einer der wichtigsten Stichwortgeber der intellektuellen Debatten jener Zeit, der Lebensphilosoph Ludwig Klages, zwar noch nicht im universitären Pantheon angelangt ist, daß aber doch von einer merklichen „Klages-Renaissance“ (Günter Zehm) gesprochen werden kann. Diese Wiederbesinnung auf den am 10. Dezember 1872 in Hannover geborenen Denker, die angesichts der Unkenntnis oder Feindschaft sowohl der akademischen Philosophie als auch des Feuilletons gegenüber Klages erstaunlich anmutet, vollzog sich zunächst zaghaft in Kreisen der ökologischen Bewegung – zumal in jenen, die noch Verbindung zur Jugend- und Lebensreformbewegung der Vorkriegszeit hatten – und griff seit den neunziger Jahren verstärkt auf jüngere Zirkel einer globalisierungskritischen, identitätsorientierten, natur- und heimatverbundenen, der traditionellen Rechten und dem christlichen Konservatismus aber eher skeptisch gegenüberstehenden „Neuen Rechten“ über, was sich in einigen oft „avantgardistischen“ Publikationsprojekten sowie in mancherlei wissenschaftlichen Arbeiten niederschlug. Konzentrierte sich das ökologische Interesse an Klages auf wenige Schriften wie den 1913 verfaßten Aufruf „Mensch und Erde“, in dem Klages mit flammenden Worten die bereits damals zu beobachtende Ausrottung vieler Tier- und Pflanzenarten, die Zerstörung von Landschaften und traditionellen Lebensformen anprangert, und ließ es den philosophischen Kontext aufgrund der Fremdartigkeit seines Denkens für den „progressiven“ Zeitgeist, besonders aber auch wegen Klages‘ angeblichem „Antisemitismus“ und den – bald gescheiterten – Versuchen einiger seiner Schüler, ihn in den dreißiger Jahren zu einem Vordenker des Dritten Reiches zu stilisieren, außer acht, so läßt sich in der neueren Klages-Rezeption ein Zugang beobachten, der das Gesamtwerk ohne die hagiographischen Tendenzen der älteren, meist von Klages-Anhängern geleisteten Forschung in den Blick nimmt und kritisch – freilich ohne die üblichen Scheuklappen bezüglich eines „reaktionären“ Autors – sichtet, um den von einem zuweilen schwer zugänglichen Stil überlagerten, auf lexikonstarke Bände verteilten Gehalt seines Denkens freizulegen. „Dinge“ sind nach Klages Projektionen des „Geistes“ Worin besteht nun die Anschlußfähigkeit des gleichermaßen radikalen wie pessimistischen Privatgelehrten, der von sich behauptete, in seiner Jugend „kosmischer“ Entrückungen teilhaft geworden zu sein, der die wichtigsten Impulse seines Denkens um 1900 von Schwabinger Dichtern und Bohemiens wie Alfred Schuler, Stefan George und Karl Wolfskehl erhalten hat und sich zeitlebens als verhinderten Dichter sah, der in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren zu einem von Hindenburg mit der Goethe-Medaille ausgezeichneten Repräsentanten des deutschen Geistes avancierte, von den Nazis aber bald kaltgestellt wurde und am 29. Juli 1956 in Kilchberg bei Zürich verstarb? Ludwig Klages war, seiner manchmal verschlungenen Systembildung zum Trotz, ein Denker des phänomenal Erscheinenden oder der „Wirklichkeit der Bilder“. Klages‘ zentrale Lehre ist seine Theorie des Ausdrucks, die er in zahlreichen Werken (am ausführlichsten in der „Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck“, 1935; am Beispiel des Menschen in den „Grundlagen der Charakterkunde“, 1926) dargelegt und in seinem philosophischen Hauptwerk „Der Geist als Widersacher der Seele“ (1929-32) sowie schon in dem furiosen Essay „Vom kosmogonischen Eros“ (1922) in eine Metaphysik und Erkenntnislehre eingebettet hat. Ihre praktische Anwendung findet sie besonders in der Graphologie („Handschrift und Charakter“, erstmals 1917), als deren wissenschaftlicher Begründer Klages gilt. Ausdruck wird als Ermöglichungsgrund jeder Kommunikation vom Leben her gefaßt; er ist Selbstexplikation eines lebendigen, wenngleich nicht unbedingt organischen Wesens. Klages formuliert aphoristisch: „Die Seele ist der Sinn des Leibes, der Leib ist die Erscheinung der Seele.“ „Sinn“ ist dabei ähnlich wie der „Wortsinn“ eines sprachlichen „Lautkörpers“ als Bedeutungsgehalt zu verstehen; und der Leib ist als Bedeutungsträger kein „Ding“ im meß- und wägbaren Sinne. Das Leben wiederum begreift Klages vom Urphänomen der Bewegung her, so daß jeder lebendige, nichtmechanische Prozeß eine Ausdrucksbewegung ist, die etwa anhand der Schrift als „Kondensat“ der Schreibbewegung untersucht werden kann. Die Stellung der Graphologie als angewandte Ausdruckskunde ergibt sich im Klages’schen Gedankensystem also nicht aus einer besonderen Aussagekraft der Schrift gegenüber anderen Lebensäußerungen, sondern sie folgt daraus, daß das Schreiben im Gegensatz zu anderen Bewegungen ein unmittelbares und bleibendes, von daher gut analysierbares Resultat hinterläßt. Klages‘ Neuansatz innerhalb der Graphologie und physiognomischen Tradition besteht also darin, vom Bewegungsphänomen und nicht von den Zeichenformen für sich bzw. von den Formen der Körperteile auszugehen. Dieser Primat der Bewegung gegenüber dem Statisch-Dinglichen – „Dinge“ sind nach Klages‘ Auffassung nur Projektionen des „Geistes“, der die Lebensprozesse analysierend „zerschneidet“ und „feststellt“ – ist das ontologische Grundprinzip seiner Philosophie; es verbindet ihn mit Nietzsche als großem Anreger, dessen „psychologischen Errungenschaften“ er ein Buch gewidmet hat, und mit anderen lebensphilosophischen Autoren seiner Zeit; jedoch hat wohl keiner von ihnen dieses Prinzip so umfassend systematisiert und auf die verschiedensten Gebiete – darunter auch die Sprachphilosophie in seinem originellen, bislang wenig beachteten Spätwerk „Die Sprache als Quell der Seelenkunde“ (1948) – angewandt. Auch wenn man heute seinem radikalen Dualismus von Geist und Seele, der immer wieder als „irrationalistisch“ und „geistfeindlich“ mißverstanden wurde, nicht mehr in jeder Hinsicht folgen möchte, dürften seine ganzheitliche Lebensdeutung, seine Parteinahme für kleinräumig-„tribale“ Organisationsformen, nachhaltige Wirtschafts- und „leibseelische“ Erkenntnisweisen sowie sein Kampf gegen das Wüten einer erdumspannenden, sinnlos dynamisierten Zivilisation, gegen Konsumfixierung und Konstrukt-Charakter moderner Lebensformen, wieder eine stärkere Beachtung finden. Foto: Ludwig Klages (1872-1956): Kampf gegen das Wüten einer sinnlos dynamisierten Zivilisation