Welche geistigen Grundlagen hat christlichdemokratische Bildungspolitik? In gewisser Weise gibt bereits diese thematische Frage Antwort. Zum ersten: Es sollten nicht irgendwelche, sondern es sollten geistige Grundlagen sein. Zum zweiten: Diese Grundlagen beruhen letztlich auf einem Fundament, das nicht von Menschen, sondern allein von Gott gelegt worden ist. Gott aber begegnet uns in unserem Kulturkreis in Gestalt des historischen Jesus und des geglaubten Christus. Deshalb ist geistige Grundlage zuallererst christlich-religiöse Grundlage. Zum dritten: Die Welt des Menschen bedarf der ordnenden Gestaltung. Um diese Gestaltung wird gerungen, seit es Menschen gibt, mindestens aber, seit es Gemeinwesen, in denen Menschen zusammenzuleben gedenken, gibt. Eine angebrachte Lösung solch gemeindlichen Zusammenlebens ist die möglichst weitgehende politische Mitgestaltungsmöglichkeit des Menschen. Man glaubt, sie in den verschiedenen Varianten freiheitlicher Aufteilung von Gewalt am besten zu verwirklichen. Deshalb ist geistige Grundlage als freiheitlich-demokratische Grundordnung im Grundgesetz von 1949 besonders geschützt. Zum vierten: Unsere Themafrage enthält das nominale Bestimmungswort, „Bildung“. Es heißt hier nicht „Schule“ und schon gar nicht heißt es hier „Sozialisation“. Allein die Nennung dieser drei Begriffe weist schon darauf hin, daß geistige Grundlage mehr sein muß als gezielte Fremdeinwirkung, daher muß auch Erziehung mehr sein als soziokulturell bedingte Prägung, Sozialisation, und schließlich weit über curricular vernetzte Lernprozesse durch erziehenden Unterricht am Lernort Schule hinausgreifen. Dieses „Mehr-Sein-Müssen“ und über sich hinauszuweisen, ohne sich jedoch selbst verdanken zu können, gehört offenbar zum Wesen des Menschen. In diesem Sinne ist geistige Grundlage humanistische Bildung. Unser erster Sinnträger innerhalb der Themafrage war das Wort „geistig“. Was meint ein halbwegs gebildeter europäischer Mensch damit? Nun, man bezieht sich auf „Geist“ im Sinne von Denken, Vernunft, Bewußtsein. Gemeint ist die Seite des menschlichen Seins, welche über das sinnlich Wahrnehmbare und bloß Materielle hinausreicht. Mehr noch: Dank Geistigkeit hat der Mensch Zugang zu einer übergeordneten, sogenannten intelligiblen Welt, der des Absoluten. Nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel entwickelt sich der Geist in drei Stufen. Erstens als „subjektiver“ Geist, daher als das Vermögen zur Abstraktion, zur Denk- und Reflexionskraft. Jede Bildungspolitik, die als vernünftig und angebracht gelten will, muß sich in diesem Sinne an das Geisteswesen des werdenden Menschen wenden. Zweitens als „objektiver“ Geist, daher als der Inbegriff für alle bedeutungstragenden, sozial bezogenen menschlichen Tätigkeiten. Das reicht von der Sprache über die verschiedenen Wissenschaften bis hin zu den Künsten; wieder muß gewissenhafte Bildungspolitik – zumal als Hochschulbildungspolitik – für entsprechende Freiräumlichkeit und Durchsetzungsmöglichkeiten Sorge tragen. Und schließlich als „absoluter“ Geist, daher der sich selbst begreifende, metareflexiv und reif gewordene Geist, wie er sich in Philosophie und Religion zu erkennen gibt. Wiederum: Eine Bildungspolitik, die diese Bereiche vernachlässigt, läßt Utilitaristen, aber keine wirklich geistesgebildeten Menschen heranziehen. Damit kommen wir bereits gleichsam wie von selbst zum zweiten Sinnträger: der christlich-religiösen Grundlegung durch eine Bildungspolitik, die diesen Namen verdient. Dabei ist der weitere Begriff „Religion“ vom engeren Begriff „Christentum“ wohlweislich zu unterscheiden – schon aufgrund des Charakters unseres Bildungswesens, das bekanntlich unter der Aufsicht des Staates steht und insofern keine religiöse oder weltanschauliche Minderheit benachteiligen darf. „Religion“ meint ein Glaubenssystem, das in Lehre, Praxis und Gemeinschaftsformen die sogenannten Letzten Sinnfragen – Gott, Welt und persönliches Leben – aufgreift und mit Blick auf eine andere Welt zu beantworten versucht. „Christentum“ fußt erstens auf der Verkündigung Jesu und zweitens auf dem verkündigten Christus. Jesu Verkündigung gruppiert sich um das zentrale Thema des Reiches Gottes, das nicht von dieser Welt ist, jedoch andererseits bereits jetzt, vor allem im Sinne des Doppelgebots der Liebe zu Gott und dem Nächsten sowie dessen Befolgung, angebrochen ist. Deshalb „Kehrt um, und glaubt an das Evangelium“ (Markus 1;15 b). Ein Christ hat aus der Gegenwart des göttlichen Heilswillens heraus zu leben, daher – ethisch gewinnbringend – dem Wohl des Menschen über alle Grenzen hinweg zu dienen. Man denke dabei nur an das Gleichnis vom barmherzigen Samariter in Lukas Evangelium 10; 30-36. An dieser Stelle soll folgende These aufgestellt werden: Nur eine Bildungspolitik, die den Mut zur christlichen Leitkultur hat und diesem Mut auch in dem ihr anvertrauten Bildungswesen organisatorische und inhaltliche Gestalt zu geben weiß, kann auf die Heranbildung solcher Menschen hoffen, die innerlich stark und zugleich offen genug sind, auf andere Menschen, zumal anderer Kultur und Religionszugehörigkeit, zuzugehen. Und daß diese Menschen bei der Suche nach dem Gemeinsamen dennoch das Eigene bewahren. So gesehen ist Religionsunterricht das wichtigste Lehrfach überhaupt. In der einleitenden Aufschlüsselung stießen wir im dritten Sinnträgerbereich auf den Begriff „demokratisch“ und bestimmten ihn zunächst als freiheitlich-demokratische Grundordnung. Christlich-demokratische Bildungspolitik muß jungen und heranwachsenden Menschen jedoch zu verdeutlichen wissen, was das heißt, und insbesondere, welcher 2500jährigen Entwicklung seit der attischen Polis, des klassischen altgriechischen Stadtstaates, es bedurfte, um den heutigen Standard dessen, was man „westliche Demokratie“ nennt, überhaupt zu erringen. Aber Kennenlernen allein genügt nicht. Ein werdender Mensch muß erleben können, was es heißt, daß ein demokratischer Staat Grundrechte des Bürgers achtet. Und er muß auf der anderen Seite ebenso intensiv erfahren können, daß Mehrheitswille zu respektieren ist. Dennoch muß die eigene Meinung keineswegs unberücksichtigt bleiben, sondern ist im Gegenteil, im Zusammenhang mit der Organisationsvielfalt, unbedingt einzubringen. Dies gilt zumal für allgemeingesellschaftliche, kirchliche sowie für politische Gruppierungen, so daß dem jungen Menschen schließlich auch deutlich zu werden vermag, daß gesellschaftliche Strukturen das Reservoir für staatliche Einrichtungen und Parteien – nach einem Wort des ersten Bundespräsidenten, Theodor Heuss – gleichsam das verbindende Röhrensystem zwischen der gesellschaftlichen und der staatlichen Ebene einer modernen Demokratie zu sein haben. Damit dieses Röhrensystem „Parteien“ psychologisch-pädagogisch Vorbildfunktion haben kann, ist darauf zu achten, daß es zum Beispiel nicht zu frustrierenden Rückstaueffekten kommt, etwa dergestalt, daß sogenannte prominente Parteimitglieder jahrzehntelang Mandatsträger sind, so daß für jüngere Menschen der Eindruck entsteht, überhaupt nicht gebraucht zu werden, geschweige gefragt zu sein. „Volkssouveränität“ darf also nicht bloß durch periodisch wiederkehrende „Volkswahl“ zum Ausdruck kommen, sondern sie muß durch solchermaßen erfahrbar politische Teilhabemöglichkeiten ergänzt werden, die bildungspolitisch vielberufene Chancengerechtigkeit über den Lernort Schule und auch über den Lernort Berufsausbildung hinaus unbestrittene Geltung erlangen. Nur auf diese Weise wird das berühmte Wort des amerikanischen Bürgerkriegspräsidenten Abraham Lincoln mit Leben gefüllt; es lautet: „Demokratie ist Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk.“ Eine christlich-demokratisch verstandene Bildungspolitik muß dafür sorgen, daß gerade in einer modernen Demokratie das Interesse des einzelnen Menschen nicht auf der Strecke bleibt, so daß es zwar Gewaltenteilung und Opposition, aber immer weniger breite Partizipation gibt. Gerade repräsentativ-demokratische Systeme – seien sie nun präsidial oder, wie das unserige, parlamentarisch-demokratisch grundgelegt – drohen sonst gleichsam oligarchisch-elitär zu erstarren und damit für junge Menschen vollends unattraktiv zu werden. Mit Immanuel Kant gesprochen, müssen die Prinzipien der „Freiheit“, der „Gleichheit“ und der „Selbständigkeit“ solchermaßen ausbalanciert erfahrbar werden, daß „der bürgerliche Zustand“ erhaltenswert erscheint. So, daß man sich sogar aktiv für ihn einsetzt und nicht Anhänger radikaler, extremistischer oder womöglich terroristischer Gruppierungen zu werden wünscht. Nun stehen „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“ nicht erst seit den Geschehnissen der Französischen Revolution miteinander in einem Spannungsverhältnis, sondern seit es menschliche Gestaltungsversuche von Gemeinschaft überhaupt gibt. Zunehmend ist seit den Tagen des normannisch-adeligen Staatsdenkers Alexis de Tocqueville sodann erkannt worden, daß es Gefährdung der Freiheit durch die Gleichheit gibt. Es ist also in christlich-demokratischer Bildungspolitik darauf zu achten, daß es – im Unterschied zu diktatorischen Regimen – keinen Vorrang von Gleichheit, sondern lediglich eine gleichheitliche Zuordnung, etwa vor Gericht und dann vor allem im Jüngsten Gericht, zu geben hat. Hier liegt die Wurzel der Notwendigkeit zu jedweder Kritik an sozialistischen, semisozialistischen und auch sozialdemokratischen bildungspolitischen Vorstellungen und Maßnahmen: Wer Gleichheit absolut versteht, schadet den Entwicklungsmöglichkeiten werdender Persönlichkeit. Gerade weil die Existenz des einzelnen durch die Mitexistenz vieler anderer einzelner unaufhebbar mit diesen verknüpft ist, hat christlich-demokratische Bildungspolitik darauf zu achten, daß bei aller Sozialverpflichtung von Bildungsgängen die Formung des Menschen als Mensch nicht unter die Räder kommt. Von daher gesehen ist der Unterschied zwischen vertikalen Strukturen des neueren Schulwesens keineswegs bloß ein Unterschied innerer Gliederung, sondern eben ein Unterschied philosophisch-politischer Grundanschauung, etwa im Sinne von „Freiheit“ vs. „Gleichheit“. Wenn Strukturunterschiede auf philosophisch-politische Grundanschauungen zurückverweisen, die in einer pluriopinialen Gesellschaft unvermeidlich, wenngleich staatlich kanalisierbar sind, dann ist es nun an der Zeit, sich dem pädagogischen Kern christlich-demokratischer Bildungspolitik zuzuwenden: dem Verständnis von „Bildung“ höchstselbst. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis der Pädagogischen Anthropologie, daß Bildungschancen nicht nur in der Auseinandersetzung des Menschen mit Gegenstandsstrukturen, sondern auch und mindestens ebenso intensiv in der Auseinandersetzung des Menschen mit seinen vorangegangenen Lebensstufen liegen. Diese biperspektiven Sach- und Personbezogenheiten von „Bildung“ gilt es vor jeder Festlegung auf Bildungsinhalte, Bildungsziele und vor jeder Bestimmung von Schul- und Unterrichtsformen zu sehen. Zu diesem eher systematischen Fokus kommt der geschichtliche. Hier spannt sich der Bogen von der altgriechischen Enzyklika paideia (Allgemeinen Bildung) über die spätantiken Septem artes liberales (Sieben freien Künste, unter anderem der Grammatik, Dialektik und Rhetorik) sowie die eher mystische Bildungsauffassung eines Meister Eckhart, dem es „auf die innergöttliche Bewegung und das Verhältnis Gottes zur Seele“ ankam, bis hin zu Renaissance, Humanismus und Deutschem Idealismus, wo es um den „uomo universale“, den „Gelehrten“ sowie um den „Gebildeten“ im Sinne von Individualität in Totalität durch Universalität gegangen ist. Begriffsradial gesehen, stößt man auf drei Grundauffassungen von „Bildung“. Erstens sei sie Lebensaufgabe – so schon Solon, wenn er sagte: „Ich werde alt und lerne doch noch so vieles“; zweitens sei sie der Menschwerdungsprozeß schlechthin – nach Platon müsse der Mensch gleichsam zweimal geboren werden: körperlich und geistig; und schließlich Geistesbildung – so Wilhelm von Humboldt. Dem Begriffsinhalt nach ist Bildung vor allem „Selbstbildung“, wie Aloys Fischer schrieb; sie „geht innen vor sich“, wie es Josef Dolch gesehen hat. Wie dies geschieht, hat mustergültig Eduard Spranger aufzuzeigen gewußt in einem Satz wie diesem: „Nur eine organisch gewachsene und immer weiter wachstumsfähige Gestalt der Seele verdient den Namen Bildung'“. Mit anderen Worten: Nicht politische oder organisatorische, curriculare oder „schulautonome“ Betriebsamkeit, sondern ruhige, stetige, traditionsgewisse und vor allem schülerbewußte Bildungspolitik hilft nach Pisa weiter. Es muß Schluß sein mit falschen Bildungsdiskussionen. Qualitätsverbesserung jedenfalls ist niemals mit quantitativem, sondern ausschließlich mit qualitativ orientiertem Denken zu erreichen. Dieter Burkert studierte Germanistik, Geschichte, Pädagogik und evangelische Theologie, ist Studiendirektor a. D. und Autor zahlreicher Sachbücher und Fachaufsätze.
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