Die Entdeckung von 1968 als großes deutsches Drama ist nicht ganz neu. In dieser Bewegung, die sich selbst als Aufbruch in eine bessere Zeit verstand, trafen sich romantische Revolutionäre und eiskalte Realpolitiker, intellektuelle Seminarmarxisten und biedere Verbandsfunktionäre, antiautoritäre, rebellische Jugendliche und stalinistische Kader, die auf unbedingten Gehorsam pochten, verspätete Hippies und militante Straßenkämpfer. Fast vierzig Jahre nach der 68er-Revolte trauen sich die meisten, die zu jener Generation gehörten, nicht mehr über die eigene Vergangenheit offen zu reden. Wenn es um die eigenen Verstrickungen, Untaten und Sünden geht, kommt man in der Tat mit Schlagworten wie „Freiheitsbewegung“ und ähnlichen Euphemismen nicht sehr weit. Denn was ursprünglich als freiheitlicher Aufbruch gedacht war, entwickelte sich schnell zur brutalen Demütigung demontierter Autoritäten, zum Großangriff und zur Übernahme bislang unangefochtener Institutionen, zur Zerschlagung bürgerlicher Werte und damit zu den tiefstgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen seit 1945. Der Schweizer Historiker Daniel Regli beschreibt die Folgen der antiautoritären Erziehung, der Emanzipation, der Infragestellung tradierter Moralvorstellungen und der „befreiten Sexualität“ aus der Sicht einer christlich-bürgerlichen Tradition, die gerade in der Schweiz durchaus noch relativ intakt und verwurzelt war. Er analysiert jedoch nicht, was die 68er-Revolutionäre dachten oder wollten, sondern was sie taten und wie sie waren. Und wer sie waren. Der Autor gesteht, daß man zwar die Lügen gespürt habe, ohne sie aber recht zu durchschauen. „68“ erschien dem christlich-bürgerlichen Lager als ein Alptraum, zu dem es bis heute immer noch keine vernünftige Deutung gibt. Das behindert die gründliche Abrechnung nicht direkt, läßt aber bedenkliche Lücken in der Analyse offen. Natürlich war der Schrei nach der Revolution und die bodenlose Herzlosigkeit im Umgang mit der älteren Generation vor allem ein Schrei nach den verlorengegangenen Autoritäten, für die man sich jetzt mit Mao oder Stalin blutigen Ersatz suchte. Um dies zu begreifen, muß man jedoch die Vorgeschichte verstehen, denn 1968 ist ohne 1945, ohne die Trauer, das Leid, die Gebrochenheit und Sprachlosigkeit der Kriegsgeneration nicht erklärbar. Regli, Jahrgang 1958, begeht den gleichen Fehler, den die meisten Autoren, die sich einer christlich-bürgerlichen Tradition verpflichtet fühlen, machen, wenn sie über 1968 schreiben. Er sieht die Folgen, den epidemischen Zerfall der Familien, die demographische Katastrophe, die infantile Weigerung, erwachsen zu werden und Verantwortung zu übernehmen, das Drogenelend und die Zerstörung gewachsener Strukturen und Institutionenvöllig richtig. Aber er weigert sich, zur Kenntnis zu nehmen, daß all dies nur möglich war, weil ein saturiertes Volk, dem man nach 1945 das Mark aus den Knochen geblasen hatte und dessen Eliten allein noch in ökonomischen Zusammenhängen dachten, einer grob politisierten und ideologisierten Minderheit so gut wie nichts entgegenzusetzen hatte. Zudem fällt er Pauschalurteile. Die Frankfurter Schule stand zwar an der Wiege der Neuen Linken, aber gerade ihre berühmtesten Vertreter, Max Horkheimer und Theodor Adorno, kann man nun wirklich nicht für jeden Schwachsinn, den ihre einstigen Schüler begingen, in Anspruch nehmen. Adorno, dessen Brillanz und depressive Radikalität die 68er in ihrer anmaßenden Banalität überhaupt nicht begriffen, weil sie in ihrer geschichtslosen Ignoranz gar keinen Sinn für das Stille und Feine hatten und noch dazu völlig unfähig waren, Tragik überhaupt wahrzunehmen, schrieb kurz vor seinem Tod in einem Aufsatz, daß die Studenten „Handlanger des Faschismus“ seien. Adornos Stilisierung zur Ikone durch die Alt-68er ist also nichts als reine Heuchelei, denn er und auch Horkheimer hatten die fahnenschwenkende Festtagsstimmung und die revolutionären Parolen der Kulturrevolutionäre längst als pseudo-politischen Klamauk entlarvt, während das bürgerlich-konservative Lager noch verzweifelt darüber nachdachte, wie man den Krawallen seiner eigenen Töchter und Söhne möglichst verständnisvoll und human begegnen könne. Wenig überzeugend sind dann auch die „Fluchtwege aus dem Desaster der Neuen Linken“, die Regli vorschlägt. Die Propagierung von Recht und Ordnung, Lebensschutz und Verantwortlichkeit, christlichem Glauben und Bescheidenheit ist gewiß gut und schön. Eine „Rückkehr zur bürgerlichen Schweiz“ würde jedoch nichts weniger als eine kulturelle Gegenrevolution bedeuten. Dafür fehlen zur Zeit in jeder Hinsicht die Voraussetzungen. Daniel Regli: Die 68er-Falle. Fluchtwege aus dem Desaster der Neuen Linken. Artesio Verlag, Zürich 2OO5, 157 Seiten, broschiert, 13 Euro