Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) löste unter einem nicht unerheblichen Teil der Gläubigen der römisch-katholischen Kirche große Unruhe und Ängste aus. Bildete der katholische Glaube bis dahin ein geschlossenes Denk- und Glaubenssystem mit enormer Ausstrahlungskraft, das auch die Nachkriegsordnung entscheidend prägte, sah man sich nun mit radikalen und revolutionären Veränderungen altvertrauter Glaubensgrundsätze und Riten konfrontiert. Diese ungeheuren Veränderungen stießen sowohl bei manchen Klerikern als auch zahlreichen Laien auf entschiedenen Widerstand. Einer der wichtigsten Exponenten dieser Widerstandsfront war Erzbischof Marcel Lefebvre, dem der Vatikan wegen seines öffentlichen Ungehorsams daraufhin schon bald Rebellion vorwarf. Lefebvre konterte seinerseits an die Adresse Roms mit dem Vorwurf der Revolution und begründete diese harte Anklage unter anderem mit der neuen Toleranzlehre der Kirche, die geprägt von Humanismus und Aufklärung den Menschen in den Mittelpunkt aller ihrer Bestrebungen stelle, eine entsakralisierte Liturgie anbiete und in einer Art Doppelstrategie die katholische Kirche abwerte bei gleichzeitiger Aufwertung anderer Religionen. Neben der Gleichwertigkeit aller religiösen Meinungen und Kulte und der Einführung einer neuen Messe, dem Novus Ordo Missae (NOM), und der sukzessiven Etablierung modernistischer Theologen in den Universitäten, Schulen, Ordinariaten und der katholischen Publizistik kritisierte der Erzbischof vor allem die Fehlentwicklungen in den Bereichen Ökumenismus und „interreligiösen Dialog“. Fast inquisitorisch ging man gegen Glaubenstreue vor Geboren wurde Marcel Lefebvre am 29. November 1905 in Tourcoing nahe Lille. Der Vater besaß eine kleine Spinnerei, beide Eltern waren fromme Katholiken, die täglich zur Messe gingen und ihre acht Kinder in diesem Geist erzogen. So wählten dann auch fünf einen geistlichen Beruf. In den zwanziger Jahren studierte Marcel Theologie am Französischen Kolleg in Rom. 1929 wurde er zum Priester geweiht und trat den Vätern zum Heiligen Geist bei. Als Erzbischof von Dakar war er elf Jahre Apostolischer Delegat für das gesamte französischsprachige Afrika. Nach seiner Rückkehr wurde er zum Bischof von Tulle ernannt und schließlich zum Generaloberen der Väter vom Heiligen Geist. Johannes XXIII. berief ihn 1962 als Mitglied in die zentrale Vorbereitungskommission für das Zweite Vatikanische Konzil. Seinen Widerstand gegen die zerstörerischen Kräfte innerhalb der Kirche hatte er bereits während der Konzils mit deutlichen Worten vorgetragen. Neben Kardinal Ottaviani, dem Präfekten der Glaubenskongregation, gehörte er zu jener Minderheit, die gegen die subversive Fraktion der liberalen Konzilsväter auftrat. Handstreichartig gelang es dieser jedoch, die Mehrheit auf ihre Seite zu ziehen, mit dem letztendlichen Resultat der Zerstörung der Identität der römisch-katholischen Kirche mit der Kirche Jesu Christi. Als in der nachkonziliaren Zeit die Annäherung an die anderen Religionen immer stärker vorangetrieben wurde, bis hin zu multireligiösen Feiern mit Muslimen, während zur gleichen Zeit die Bekämpfung glaubenstreuer Kräfte durch die offiziellen Gremien fast inquisitorische Züge annahm – als die Behinderung der Kleriker durch „demokratisch“ gewählte Laiengremien zur Norm wurde, während beim Besuch der Heiligen Messe, beim Empfang der Sakramente sowie bei den Priester- und Ordensberufungen ein katastrophaler Rückgang zu verzeichnen war, beschloß Erzbischof Lefebvre zu handeln. Die Aufgabe des Meßopfers, das die zentrale katholische Doktrin als liturgische Handlung enthält, und die strikte Ablehnung des tridentinischen Messe, deren Opfercharakter nun zurückgedrängt wurde zugunsten einer Mahl- und Gedenkfeier – Rom bezeichnete dies als „ökumenischen Aufbruch“ -, sowie die Einführung Hunderter verschiedener Canones in den Gottesdienst ließen nur noch diese Entscheidung zu. Am 1. November 1970 gründete Lefebvre mit kirchlicher Erlaubnis die Priesterbruderschaft St. Pius X. und eröffnete in Econe im schweizerischen Wallis ein Priesterseminar. Das Meßopfer wurde nach tridentinischem Ritus beibehalten, der gregorianische Choral wurde für das Chorgebet bestimmt, das Tragen einer Soutane war selbstverständlich. In den kommenden acht Jahren empfingen gut hundert Seminaristen die Priesterweihe. Priorate wurden in Frankreich, Italien, der Schweiz, England, den Niederlanden, den USA und Kanada und schließlich auch in Deutschland gegründet. Die Erfolge der Priesterbruderschaft brachten jedoch die Modernisten in Rom und in den lokalen Diözesen in Stellung. Denn obwohl selbst Paul VI. im Jahre 1972 in einem Brief an den Erzbischof die „Oberflächlichkeit gewisser Konzilsinterpretationen“ beklagte und bekannte, daß inzwischen „der Glaube nach Gutdünken benutzt wird“, kam er natürlich nicht auf den Gedanken seiner großen Mitschuld an der gegenwärtigen Krise der Kirche. Nichts anderes als folgenlose Jammerei war so sein Klageruf: „Durch irgendeinen Spalt ist der Gestank Satans in den Gottes Heiligtum eingedrungen …Wir haben geglaubt, der Tag nach dem Konzil würde für die Kirche ein Tag voller Sonne werden, aber statt Sonne haben wir Wolken, Sturm, Finsternis, Tasten und Ungewißheit bekommen …“ Er blieb trotz aller Kritik bei der Anerkennung des Papstes 1973 hatte der französische Abbé George de Nantes eine wahrhaft besorgniserregende Sammlung von Äußerungen und Handlungen Pauls VI. zusammengestellt und beim Vatikan Anklage wegen „Häresie, Schisma und Ärgernis“ erhoben. Entweder sollte der Papst seine Worte und Taten widerrufen oder für abgesetzt erklärt werden. Diesen Weg des Sedisvakantismus, d.h. der Erklärung der Vakanz des Heiligen Stuhls, lehnte Lefebvre jedoch entschieden ab. So lautete seine Antwort an den Abbé: „Sie sollen wissen, daß wenn ein Bischof mit Rom bricht, nicht ich es sein werde!“ Zwar spielte er wohl eine Zeitlang mit dem Gedanken der Möglichkeit einer Sedisvakanz, doch blieb er bei seinem Kurs der Anerkennung von Paul VI. als Papst, wie unwürdig sich dieser auch immer verhielt. Dies galt auch für dessen Nachfolger. Ein völliger „Bruch“ mit Rom stand für Lefebvre ernsthaft nie zur Debatte. Und auch als im März 1982 der vietnamesische Erzbischof Pierre Martin Ngo-dinh Thuc öffentlich seine Declaratio über die Sedisvakanz verkündete, blieb Lefebvre bei seiner Linie, dem von ihm anerkannten Papst „ins Gewissen zu reden“ und den Heiligen Vater zu bitten, das „Experiment der Tradition“ weiterführen zu dürfen. Da jedoch die konziliare Kirche auch nach Lefebvres Auffassung schismatisch und häretisch und somit nicht mehr katholisch war, zur Rettung der Tradition, wie der Erzbischof sie verstand, aber unbedingt Nachfolger für ihn zur Verfügung stehen mußten, weihte er im Jahre 1988 vier Bischöfe. Für Rom war nun allerdings das Maß endgültig voll. Nach der Suspension „a divinis“ 1976 teilte man ihm nun die Exkommunikation mit. Drei Jahre später, am 25. März 1991, verstarb Erzbischof Lefebvre nach kurzer Krankheit im Alter von 85 Jahren im schweizerischen Wallis. Mit Benedikt XVI. steht ein Kompromiß in Aussicht Die von ihm gegründete Priesterbruderschaft St. Pius X. ist heute innerhalb des traditionalistischen Flügels der römisch-katholischen Kirche die zahlenmäßig stärkste Kraft. Davon zeugen nicht nur fast hundert Priorate und Kirchen bzw. Kapellen allein im deutschsprachigen Raum, die damit gewissermaßen ein „Netzwerk“ der Tradition bilden, sondern auch die Aufmerksamkeit, die der Vatikan ihr seit dem Amtsantritt Benedikts XVI. widmet. So empfing Papst Benedikt XVI. am 29. Juli dieses Jahres den Generaloberen der Priesterbruderschaft, Mgr. Bernard Fellay, zu einem Gespräch, nachdem dieser um eine Audienz gebeten hatte. Bischof Fellay ging es darum, die „Existenz der Tradition“ in Erinnerung zu rufen und diese als „einzige Antwort“ auf die tragische Krise der Kirche anzubieten. Zudem wurde die „volle Freiheit“ für die tridentinische Messe gefordert, den Vorwurf des „Schismas“ fallenzulassen und die „Exkommunikation“ für nichtig zu erklären. Dazu hieß es in einem ersten Kommuniqué des Vatikans bezüglich der Audienz, man habe „den Willen, schrittweise vorzugehen in vernünftigen Zeiträumen“. Wie der zu erwartende Kompromiß letztendlich aussehen wird, ist auch für die Zukunft von Erzbischof Lefebvres Lebenswerk, der Priesterbruderschaft St. Pius X., von entscheidender Bedeutung. Weitere Informationen: Vereinigung St. Pius X. Deutscher Distrikt, Priorat St. Athanasius, Stuttgarter Straße 24, 70469 Stuttgart, Tel. 07 11 / 89 69 29 29 Foto: Erzbischof Lefebvre: Den Heiligen Stuhl wollte er nicht leer sehen