Von dem deutschen Soziologen Robert Michels (1876-1936) stammt das Wort vom „ehernen Gesetz der Oligarchie“. Michels, der Mussolini und dessen syndikalistischen Sozialismus bewunderte, wurde später Lehrstuhlinhaber für faschistische Wirtschaftstheorie an der Universität Perugia. In seiner wissenschaftlichen Frühzeit und unter der Patronage von Max Weber hatte er herausgearbeitet, daß politische Ideale schnell und konsequent dem eigenen Machterhalt innerhalb der und für die Parteiclique geopfert werden. Michels war Empiriker: seine praktischen Erfahrungen gewann er als SPD-Mitglied im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts. Das alles liegt hundert Jahre zurück, aber wer wollte Robert Michels Untersuchung über strukturelle Oligarchien, die Beherrschung des Systems durch die Wenigen (und Reichen) eine gewisse Aktualität absprechen? So weit, so gut. Am vergangenen Freitag wurde in Berlin der Deutsche Filmpreis zum ersten Mal direkt von der Deutschen Akademie für Film verliehen. Kulturstaatsministerin Christina Weiss bekam langanhaltenden Applaus dafür, daß sie Kür und Verleihung des mit insgesamt knapp drei Millionen Euro dotierten Filmpreises in die Hände der Filmakademie gelegt hatte. Seit der Stiftung des Deutschen Filmpreises durch den Bundesinnenminister im Jahre 1951 liegt zum ersten Mal die Verantwortung bei jenen, die allem Anschein nach am meisten vom Metier verstehen. Die Filmakademie ist selbstverständlich, der Kunst- und Wirtschaftsform Film genüge tuend, ein gemeinnütziger Verein, der keine Steuern zahlen muß und sich aus Mitgliedsbeiträgen finanziert. Nun gut, die knapp drei Millionen Preisgeld stammen aus Steuergeldern, aber wer wollte bei Filmen wie „Alles auf Zucker!“ (Regie: Dani Levy), dem diesjährigen Absahner, knauserig sein? Immerhin eine politisch korrekte Komödie um jüdische Selbstdefinitionen, die sich durch die Brille der Kinobesucherstatistik gesehen ein halbes Jahr unter den Top 100 halten konnte. Wir Deutschen träumen in unseren Filmen nicht „Der Untergang“ von Bernd Eichinger und Oliver Hirschbiegel ging leer aus, auch wenn der Film vergleichsweise ein Zuschauermagnet war und internationale Anerkennung erhalten hat. Henry Hübchen, der „beste männliche Darsteller“ aus „Alles auf Zucker!“ jubelte während der Verleihung in der Berliner Philharmonie unter Anspielung auf seinen Konkurrenten und Hitler-Darsteller Bruno Ganz, er habe „Hitler geschlagen“. Kein unintelligentes Aperçu, wenn auch leicht geschmacklos. Aber so sind sie eben, unsere – wie der Berliner sagt – Filmfritzen: die Unterscheidung zwischen Zeichen und Bezeichnetem fällt ihnen schwer, zumindest dann, wenn eine Chance zur Repräsentation des eigenen Egos greifbar nahe scheint. (Hübchen ist kein Filmfritze, ich tue ihm hier unrecht. Er ist künstlerisches Alter Ego von Frank Castorf an der Volksbühne und inszeniert auch selbst). Die mythen- und archetypenfreie Drehbuchproduktion der geschichtsbesessenen Deutschen, für die nur Tatsachenberichte zählen, läuft nach wie vor auf geschmierten Computertastaturen. Als Kontrast erinnere ich mich gerne zurück an die atemlose Stille während der Berliner Filmfestspiele 1996, als Terry Gilliams apokalyptischer Film „Twelve Monkeys“ dem deutschen Fachpublikum einen Eindruck von dem vermittelte, was halluzinöse Feier der Liebe und Bejahung des Kosmos in künstlerischer Form bewirken kann. Wir Deutschen träumen in unseren Filmen nicht. Nach C.G. Jung könnte man sagen, entweder sind wir furchtbar gesund oder furchtbar tot. Doch das ist ein anderer Film. Die Liste der rund sechshundert Voll- und Fördermitglieder der Akademie liest sich wie ein Wer-ist-Wer der deutschen Filmschaffenden, selbst wenn sich TV-Figuren wie Fred Kogel oder Sponsoren wie die Musikverlagssparte von Bertelsmann darunter befinden. Natürlich will solch geballte Medienmacht eine Verankerung im „politischen Diskurs“. Dies ist auch einer der qualitativen Unterschiede zum großen Vorbild, der Academy of Motion Picture Arts and Sciences; einer Organisation, die sich nicht regierungsgebunden fühlt. Mit sechstausend Mitgliedern aus der ohnehin mächtigen US-Filmbranche ist sie die größte Organisation dieser Art weltweit. Die jährliche Oscar-Verleihung zeugt davon. Vielleicht nicht ohne Grund hat man hierzulande genau ein Zehntel der Mitglieder der amerikanischen Schwesterorganisation zur alchemistischen Formel gewählt. Akademie ist ein großes Wort. Es unterstellt Akademismus und hehre Ambitionen. Bei Film und Fernsehen sind Ambitionen eine der wesentlichsten Voraussetzungen zum persönlichen Erfolg. Die Hehrheit und künstlerische Aufrichtigkeit des Filmschaffens, die sogenannte Vision, gehen im Idealfall Hand in Hand mit den ökonomischen Konsequenzen eines Films. Weil der Idealfall angeblich so selten eintritt, müssen künstlerisch wertvolle Filme „gefördert“ werden, daher die mannigfaltigen staatlichen, steuerfinanzierten Förderungsinstitutionen, die auch entscheiden, was warum künstlerisch wertvoll ist. Auch die Deutsche Filmakademie ist eo ipso ein solcher Entscheidungsträger. Soweit die Theorie. In der Praxis sind künstlerische Visionen der Medienschaffenden nicht nur cum grano cocaini zu genießen, auch die Ambitionen eines Filmschaffenden müssen nicht unbedingt mit dem finanziellen Erfolg seines Films korrelieren. Das eine bedingt nicht das andere. Aber für das fehlende Kettenglied gibt es Ersatz. Dazu zählt das korporative Selbstverständnis, das immer schon in Deutschland vorhanden war, nicht nur nach 1945. Auf den ersten Blick war nicht zu erkennen, daß einer der diesjährigen Preisträger, von Drehbuch über Regie und Musik nicht auch Akademiemitglied gewesen wäre. Nun ist Deutschland ein relatives kleines Land mit einer überschaubaren Film- und Fernsehbranche. Man kennt sich, man sieht sich auf immer den gleichen Premierenfeiern und Festivals, in immer den gleichen Gremien und Produktionsbesprechungen. Die Claims sind abgesteckt. Und warum sollte es auch nicht so sein, jede Wirtschaftsbranche macht das so oder versucht es zumindest. Der Kuchen ist begrenzt. Die Sache hat nur einen Haken. Film ist in der Theorie (und in der Praxis vieler Nationen) kein Kuchen, sondern ein mythenstiftendes Ereignis. Oder simpel gesagt: eine Kunstform. Film ist ein mythenstiftendes Ereignis, eine Kunstform Kunst geht es immer dann schlecht, wenn einige wenige, aber machtvolle Ideologen die Krallen nach ihr aussstrecken. Nach der Gleichschaltung des Kulturbetriebs entstanden überall im Dritten Reich verstreut sogenannte Thing-Stätten, riesige Freilufttheater für kultische Germanenspiele, aus der heutigen Sicht eine völkisch-romantizistische Lächerlichkeit. Oberhalb des Philosophenwegs bei Heidelberg findet sich noch so ein Amphitheater, auch die Waldbühne in Berlin hat ihre Urgründe in dieser Ideologie. Alle halbwegs gebildeten Deutschlehrer mit Profilneurose fühlten sich berufen, die Reichskulturkammer unaufgefordert mit Wotan-Dramen zu überschwemmen. Doch die Thing-Bewegung scheiterte grandios. 1937 erklärte sie Goebbels als nicht mehr „reichswichtig“. Die Gründe waren vielfältig: fehlende Publikumsresonanz, fehlende geeignete Stücke, erhebliche finanzielle Defizite. Ein Schelm, wer da an heute denkt. Wie gesagt, Deutschland hat nur eine vergleichsweise kleine Filmbranche. Die bewegten Gelder, private und staatliche zusammengenommen, können der Filmindustrie Frankreichs nicht das Wasser reichen. Vergleiche mit neuer-standenen Filmnationen wie Indien sind besser zu vermeiden. Dennoch ist Geld als bewußtseinserweiternde Droge auch hierzulande ein wesentlicher Faktor, und wenn wir Robert Michels folgend Oligarchien als Strukturen definieren, die ökonomische, ideologische und individualpsychologische Ziele gleichermaßen verfolgen, so wird klar, daß unter den gegebenen Strukturen die Deutsche Filmakademie und einige ihrer Mitglieder nicht gefeiht sind vor dem Vorwurf, eine solche zu sein. Und zwar nicht deshalb, weil gemäß Hegel „nichts geschieht, ohne daß ein Interesse besteht“ und fast alle diesjährigen Preisträger Mitglieder der Akademie sind (diesem Vorgang haftet vielleicht ein Odeur an, ist aber wohl nicht zu vermeiden), sondern fast ausschließlich deshalb, weil die filmischen Ergebnisse des abgelaufenen Produktionsjahres wieder einmal an den Mythen-Bedürfnissen des Publikums vorbeigegangen sind. Eine der wenigen Ausnahme dürfte der Kinderzeichentrickfilm „Lauras Stern“ (aus dem Hause Rothkirch) gewesen sein, der zu Recht die Auszeichnung in der Sparte erhielt. Trotzdem hatte die Fernsehübertragung der Preisverleihung an prominenter Stelle in der ARD vergangenen Freitag miserable Quoten. Mißverständnis zwischen Produzenten und Publikum Aber vielleicht ist das ganze auch nur ein Mißverständnis auf beiden Seiten, eines zwischen Quantität und Qualität, zwischen Publikum und Produzenten. Als 1986 die italienische Filmikone und Jury-Vorsitzende Gina Lollobrigida einen Skandal provozierte, indem sie öffentlich erklärte, daß sie gegen den Gewinner der Berlinale, den Film „Stammheim“ des deutschen Regisseurs Reinhard Hauff votiert habe, war dies ein skandalöser und „einmaliger Vorgang“ und verstieß angeblich gegen den Verhaltenskodex der Jury. Die „Lollo“ hatte sich nach über einem halben Jahrhundert des Filmschaffens schlichtweg über Qualität und Aussage des Films (Drehbuch: Stefan Aust, heute Spiegel-Chefredakteur) aufgeregt und konnte die einhellige Meinung der Jury nicht fassen. Die italienische Filmdiva hatte bis dahin an die 70 Filme gedreht. Reinhard Hauff etwa zehn. Damit man mich nicht mißversteht: Reinhard Hauff ist bestimmt ein netter Mann. Ich habe nichts gegen die Filme von Reinhard Hauff, der letzte Woche den diesjährigen Ehrenpreis der Deutschen Filmakademie für sein Lebenswerk erhielt. Der deutsche Film bewegt sich in einem bestimmten politischen Kontext, und innerhalb dieses Kontextes wird Hauff mit logischer Zwangsläufigkeit kanonisiert. Noch weniger aber habe ich gegen die Filme von Gina Lollobrigida! Kai-Michael Majewski hat über zwölf Jahre als Drehbuchautor und Producer für das deutsche Fernsehen gearbeitet. Er ist der Enkel des 1996 verstorbenen mehrfachen Bundesfilmpreisträgers und Komponisten Hans-Martin Majewski. Foto: „Alles auf Zucker!“-Regisseur Dani Levy, Komponist Niki Reiser und der Schauspieler Henry Hübchen (v.l.n.r.): „Hitler geschlagen“