Richard Wagner behauptete 1850 in seiner Schrift über „Das Judentum in der Musik“, daß der Jude schon wegen seiner äußeren Erscheinung nie als ein Gegenstand der darstellenden Kunst denkbar sein kann. Gleichwohl werden in seinen Dramen immer wieder Gestalten gesucht, die den Juden entsprechend anti-jüdischen Klischees veranschaulichen sollen, derer sich Wagner im Zusammenhang mit seinen politischen, sozialen, ökonomischen und ästhetischen Überlegungen bediente. Ulrich Drüner, durchaus im Banne des Musikers und Dramatikers, versucht in seinem Buch „Schöpfer und Zerstörer“ darüber Klarheit zu gewinnen, ob und wie sehr Wagners Antijudaismus das Werk beeinflußte, eine seit geraumer Zeit ohnehin umstrittene Frage. Drüner sieht überall Hinweise auf jüdische „Charakterisierung“, meist über „kulturelle Codes“ – Sprechweise oder Gestik – verschlüsselt. Es sind die häßlichen, unsympathischen oder gebrochenen Gestalten auf der Weltbühne Wagners, in denen er Juden oder Judenkarikaturen erkennen möchte. Drüner sieht im Juden den Repräsentanten der Moderne und der Modernisierung und beurteilt Kritik an der Moderne als einen Kampf gegen das Judentum. Wagner polemisierte gegen die „häßliche Moderne“ und damit also gegen die häßlichen Juden. Wagner verstand sich als „unzeitgemäß“ unter einer dem beweglichen Geld hörigen Bourgeoisie. In den künstlichen Reichen der kapitalistischen Warenwelt, in der alles zur Ware wird, muß die Kunst unweigerlich sprachlos werden oder sich der Jargons der Unterhaltungsindustrie bedienen. Mit solchen Vorbehalten befindet sich Wagner in Übereinstimmung mit dem Sozialästheten Schiller, mit den französischen Sozialisten und Sozialästheten Fourier, Proudhon oder Blanqui und nicht zuletzt mit Karl Marx. Diese Analytiker des bürgerlichen Kapitalismus sahen im Juden idealtypisch den bürgerlichen Kapitalisten, dessen Religion allein das Geld und dessen Tempel die Börse sei. Dadurch erweist sich der Jude nicht als ein Anderer oder Fremder. Er ist nur der Ausdruck vom „Judentum der bürgerlichen Gesellschaft“ überhaupt (Karl Marx), die auf dem Egoismus beruht. In diesem Sinn bedeutet die Judenemanzipation für Marx oder Wagner die Emanzipation der Menschheit vom Judentum, was heißt von der Bourgeoisie. Juden und Bürger müssen sich gemeinsam „vernichten“, sich aus ihrer kapitalistischen Praxis befreien, um ihre Menschheit zurückzugewinnen und damit zugleich der Menschheit die Möglichkeit eröffnen, sich aus ihrer unverschuldeten Selbst-Entfremdung zu erlösen. Neben den Juden sah Wagner, dem antiautoritärem Proudhon folgend, als weitere „plastische Dämonen“ der die Menschen zur bloßen Funktionstüchtigkeit dressierenden „Moderne“ die Juristen, die Jesuiten und die Junker. Der Jude steht also nicht isoliert da, er hat seine „häßlichen“ Gefährten. Untereinander sind sie oft gar nicht genau zu unterscheiden. Deshalb bleibt es einmal mehr ein recht verkrampftes Bemühen, Mime oder Beckmesser als Karikaturen von Juden auszugeben. Mime ist wie alle Zwerge im germanischen Mythos häßlich und eigennützig. Er wird von seinem Bruder ausgebeutet, so daß sonderbarerweise ein Jude den Juden knechten würde. Außerdem müßten Mime und Alberich „jüdisch“ reden. Sie „sprechen“ jedoch wie alle Menschen und Götter: im Stabreim. Mime ist ein Opfer des Systems wie alle übrigen. Bei Beckmesser weisen seine Unzulänglichkeiten unmittelbar auf seine Bürgerlichkeit und bildungsbürgerliche Pedanterie. Er gehört als „Beamter“ zu einem erstarrten System, in dem auch die Kunst um ihr Leben bangen muß. Der Meistersinger, der Künstler Beckmesser verdammt jede Abweichung von den Regeln und Konventionen. Er ist unbedingt ein Kenner, aber einer mit Angst vor Neutönern, vor den Modernen wie Stoltzing, vor dem schöpferischen Wagnis. Sein Versuch, ein Werk der neuen Kunst zu interpretieren, mußte scheitern, weil er es als phantasielose „Kulturbetriebsnudel“ gar nicht verstehen kann. Beckmesser ist der Gegner der Moderne, der Reaktionär. Der Neutöner ist der Junker Stoltzing, und der Vermittler zwischen Tradition und Fortschritt ist Hans Sachs. Drüner hätte das alles doch zu denken geben können. Da er Wagners politisch-soziale Gedanken nicht sonderlich beachtete, den „linken“ Wagner für ein Fabelwesen hält, vermag er Wagners Absichten meist nicht richtig einzuschätzen. Wagner spricht zur Menschheit über die gequälte Menschheit, aber nicht um seine antijüdischen Obsessionen vor Deutschen oder Ariern zu dramatisieren. Gerade deshalb wurde sein Werk zu einem europäischen Ereignis, das bis heute die Welt beschäftigt. Udo Bermbach gehört zu den gründlichen Kennern der politischen und sozialästhetischen Überlegungen Richard Wagners. Dessen Dramen, die in überzeitlichen, endlich mythischen Bildern gleichwohl den Stoff der Gegenwart eindrucksvoll raffen, vergegenwärtigen ohne banale Aktualisierungen die Krisen und Herausforderungen einer Gesellschaft im Umbruch. Wagner erscheint als der neue Tragöde, den sich Proudhon erhoffte: als der Musikdramatiker, der die vereinzelten Individuen über den schönen Enthusiasmus zu einer Gemeinschaft vereint. Diese wird sich unter dem Eindruck des dramatischen Geschehens auf der Bühne ihrer Menschlichkeit bewußt und erlangt die Kraft, endlich alles zu zerstören, was das Leben daran hindert, in voller Schönheit und Wahrheit wieder lebendig zu werden, also in Übereinstimmung mit der Natur sich in allgemeiner Symphilie zu verströmen, nicht im Mitleiden, sondern in einer alle Kreatur einschließenden seligen und schöpferischen Liebe. Der Jude ist von dieser Utopie nicht ausgeschlossen. Die Welt als Geschichte: Staat, Kirche, Kapital und Politik, Juda und Rom als deren Chiffren – das alles geht in der notwenigen, wie Not wendenden Götterdämmerung unter. Der Jude gehört zu dieser endlichen Welt als Geschichte, wie der ihm verwandte Jesuit, der Jurist oder der militaristische Junker, die alle dem Gesetz unterstehen und gehorchen, statt den Zwang durch die Gesetze zu zerbrechen. Insofern bedarf es keiner besonderen Hervorhebung des Juden in dem großen Welttheater, weil er nur einer neben den anderen unglücklichen Gestalten ist, die im Namen der Macht des Gesetzes und seiner Ordnungen um Rechte und Freiheit betrogen werden. Nicht der Jude allein leidet, alle leiden, selbst der große Gott, Wotan, der seinen Untergang herbeiwünscht, damit neues Leben aus den Ruinen sprieße. Ulrich Drüner: Schöpfer und Zerstörer. Richard Wagner als Künstler. Böhlau Verlag, Köln 2003, gebunden, 361 Seiten, 34,90 Euro Udo Bermbach: „Blühendes Leid“. Politik und Gesellschaft in Richard Wagners Musikdramen. Richard Wagner als Künstler. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart 2003, gebunden, 363 Seiten, 39,95 Euro Fotos: Roland Fenes als Beckmesser (re.) und Mads Bogh-Svendsen als Stoltzing proben für die „Meistersinger von Nürnberg“ am Theater Magdeburg: Nur einer neben den anderen unglücklichen Gestalten
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