War der „Anschluß“ Österreichs an Hitler-Deutschland, wie es der Vorsitzende des Jewish World Congress, Edgar Bronfman, einst salopp formulierte, in Wahrheit „eine Liebesheirat und keine Vergewaltigung“, oder trifft eher jener Passus aus der Moskauer Deklaration der Alliierten gegen Ende des Zweiten Weltkrieges zu, in dem „Österreich als erstes Opfer der Hitlerschen Aggressionspolitik“ bezeichnet wird? Die Opferthese lag der Politik des Wiederaufbaus der kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Strukturen Österreichs in den Nachkriegsjahren – zumindest bis zu den Auseinandersetzungen um den Bundespräsidenten Kurt Waldheim in den späten achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts – gewissermaßen „offiziös“ zugrunde. Seither werden Abstriche gemacht, die Österreich teuer zu stehen kommen (Zwangsarbeiterentschädigung, „Nationalfonds“ für NS-Opfer, „Versöhnungsfonds“ etc.). Einseitigkeiten der Geschichtsbetrachtung vermeidend, unterscheidet der Münchener Politologe Gottfried-Karl Kindermann in seinem jüngsten Buch „Österreich gegen Hitler“ zwischen der Regierungspolitik und der Bevölkerung Österreichs. Mit seinem Werk setzt er dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus und Bolschewismus der vom ermordeten Engelbert Dollfuß und darnach von Kurt v. Schuschnigg zwischen 1933 und 1938 geleiteten österreichischen Bundesregierung ein würdiges Denkmal. Im Gegensatz zu jenen hoch verehrten und mit Denkmälern vor der Parlamentsrampe ausgezeichneten „Gründern“ der Republik Österreich (Karl Renner, Viktor Adler und Otto Bauer), die in Wahrheit an der Zerstörung der Monarchie maßgeblich mitgewirkt haben und nach dem Ende des Ersten Weltkrieges ein Aufgehen Österreichs im Deutschen Reich anstrebten, traten Dollfuß und Schuschnigg nicht nur für die staatliche Unabhängigkeit Österreichs ein, sondern sie förderten auch das, was man „Österreichpatriotismus“ nennt. Gemeint war damit der Stolz auf die geschichtliche Funktion, welche die zahlenmäßig kleine deutschsprachige Fraktion des Hauses Österreich für die gesamte Donaumonarchie, für den deutschen Kulturraum und für ganz Europa einst erfüllt hatte. Das weitgehend deutschbewußte Volk allerdings hielt immer weniger von dieser Österreichideologie, ihm stachen die Erfolge der Nationalsozialisten in Deutschland in die Augen. Die „Heimholung“ des Saarlands, die Wiedereingliederung des Rheinlands in die Verteidigungskompetenz des Reiches, vor allem aber die zügige Beseitigung der so deprimierenden Arbeitslosigkeit verfehlten keineswegs ihren Eindruck auf große Teile der österreichischen Bevölkerung. Von ihnen wurde der Einmarsch der deutschen Wehrmacht als „als große geschichtliche Wende empfunden“, die in weiten Kreisen der Gesellschaft eine Euphorie auslöste, von der sich sogar der hohe Klerus anstecken ließ, nachdem er jahrelang einen scharf anti-nationalsozialistischen Ton angeschlagen hatte. Eine weitere These Kindermanns betrifft die Bedeutung des Abessinienkrieges für das Schicksal Europas und Österreichs. Durch diesen Krieg Mussolinis verlor Italien die Unterstützung von Großbritannien und Frankreich, es war gezwungen, sich an Hitlerdeutschland anzulehnen und damit ging Österreich die wichtige Unterstützung durch Italien verloren. Weil auch Großbritannien (Flottenabkommen) und Frankreich zunehmend auf appeasement setzten, geriet Österreich international in die Isolation. Mit Österreich fiel „das wichtigste Bollwerk Europas gegen die maßlosen Expansionsbestrebungen Hitlers“, und der Zweite Weltkrieg wurde unausweichlich. Wie Kindermann anhand der Quellen nachweist, wurde diese Gefahr von vielen wachen österreichischen und ausländischen Beobachtern lange vor dem „Anschluß“ ganz klar erkannt. Einer von ihnen, K. G. Bittner, schrieb bereits 1936: „Täuschen wir uns nicht – der Bruch von Locarno war nur ein Vorspiel. Der militarisierte Rhein soll die Rückendeckung sein für den Vorstoß des Hakenkreuzes an die Donau… Mit Recht dürfen wir heute sagen: Europa ist in Gefahr, wenn Österreich in Gefahr ist“. Und zur gleichen Zeit (März 1936) und in der gleichen Zeitschrift Der christliche Ständestaat, die als ideologisches Zentralorgan der „Vaterländischen Front“ fungierte, forderte Dietrich von Hildebrand im Interesse Europas die Beseitigung des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland, denn dieses Regime „lebt von einem Geist, der zwangsläufig früher oder später zu einer kriegerischen Entladung führen muß“: „Nur die geschlossene Front Europas gegenüber dem Dritten Reich, die der nationalsozialistischen Regierung keinerlei Konzessionen macht, kann Europa vor der Katastrophe retten, die sich vor allem für das deutsche Volk am furchtbarsten auswirken würde“. Kindermanns Buch stellt eine wertvolle Bereicherung für das dar, was heute „politische Bildung“ genannt, als Unterrichtsstoff an den Schulen aber häufig höchst undifferenziert vorgetragen wird. Allein das Schlußkapitel über „Anschlußtaumel, Ernüchterung und Vergangenheitsbewältigung“ könnte als Pflichtlektüre manche, meist parteipolitisch eingefärbte Geschichtsbilder zurechtrücken und das Verständnis für die politische Denk- und Handlungsweise der Väter und Großväter fördern, auch wenn diese aus guten Gründen keine „Demokraten“ waren. Gottfried-Karl Kindermann: Österreich gegen Hitler. Europas erste Abwehrfront 1933-1938. Verlag Langen Müller, München 2003, gebunden, 480 Seiten, 24,90 Euro