Das Lebensgefühl der großen Mehrheit unseres Volkes wird schon längst nicht mehr durch die beglückenden Erlebnisse der „Wende“ von 1989 bestimmt, sondern in zunehmendem Maße durch die deprimierenden Erfahrungen eines zwar weniger spektakulären, dafür aber um so persönlich spürbareren „Wertewandels“ und „Paradigmenwechsels“, der seit den sechziger Jahren von allen möglichen Alternativbewegungen vorangetrieben worden ist – und trotz aller Erfahrungen weiter vorangetrieben wird! Doch wohin? Klare Orientierungen fehlen oder werden nicht genannt, und demzufolge auch klare Vorstellungen von möglichen Auswegen aus dieser Krisensituation. Ein wesentlicher Grund für die teilweise bewußte Desorientierung unseres Volkes liegt in einem systematisch betriebenen Prozeß der Entchristlichung in der DDR, dem ein nicht mehr minder bedeutsamer Prozeß der Entkirchlichung in den alten Bundesländern entspricht. Ein bislang nicht widerrufener Kernsatz des sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus lautet nun einmal „Die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik“, wobei nirgends gefordert wird, daß diese „Kritik“ in der Form brutaler Christen- und Kirchenverfolgungen in den uns bekannten Ausmaßen praktiziert werden müßte. Ganz im Gegenteil! Das Prinzip der „freiwilligen Selbstpreisgabe“ wird als die überzeugendere Methode durchaus hervorgehoben. Dazu gehört auch die Zurückweisung derartiger Feststellungen als unzulässige Verallgemeinerung von einzelnen Ereignissen oder „Entartungen“ des Sozialismus. Vor dem Hintergrund dieser Stimmungslage in Deutschland ist es dankbar zu begrüßen, daß nun ein maßgebender Beitrag zur Auseinandersetzung um das Thema „Religion und Politik“ vorliegt. Es handelt sich um eine repräsentative Umfrage unter 2.000 Bundesbürgern in den alten und neuen Bundesländern, die das Institut dimap im Auftrage der Konrad-Adenauer-Stiftung durchgeführt hat und die eine ähnliche Bedeutung wie die vielzitierte Pisa-Studie haben könnte. Sie basiert auf 61 Fragen zu allen Aspekten des Themas: also nach dem persönlichen Verhältnis zu Glauben und Kirche, nach der Bedeutung christlicher Werte im persönlichen und öffentlichen Leben, nach der Beurteilung politischer Stellungnahmen der Kirchen, nach der Einstellung zum Islam und zum Verhältnis zu den in Deutschland und zu den in unmittelbarer Nachbarschaft lebenden Muslimen, um nur einige Fragenkomplexe zu erwähnen. Die Antworten auf diese Fragen dokumentieren ein ebenso breites wie diffuses Meinungsspektrum und bestätigen damit auf den ersten Blick die eingangs angedeutete Stimmungslage in Deutschland. Sie gestatten aber auch unterschiedliche Interpretationen und Schlußfolgerungen, wie sie von acht namhaften Sozialwissenschaftlern, Abgeordneten, Kirchenvertretern und Mitarbeitern der Konrad-Adenauer-Stiftung vorgenommen wurden. Trotz der teilweise deprimierenden Umfrageergebnisse sollte ein wichtiger Grundtenor in den Antworten einer Mehrheit von 70 Prozent der Befragten nicht übersehen werden: Die durch diese Dokumentation nachgewiesene Tatsache, daß trotz der tatsächlich wachsenden persönlichen Entfremdung vieler Menschen von Religion und Kirche nach wie vor eine beachtliche Akzeptanz christlich-konservativer Wertevorstellungen besteht. „Nicht weil der damit verbundene Inhalt immer von der Mehrheit geteilt wird, sondern weil die Mehrheit in einer sich immer schneller wandelnden Meinungsvielfalt Orientierung und Verläßlichkeit sucht und schätzt.“ (Stephan Eisel). Das „C“ im Parteinamen der CDU hat also noch – oder schon wieder? – eine identitätsstiftende Funktion, nicht nur für die Partei, sondern für unser Volk und Europa, wenn es nur glaubwürdig vertreten wird. Hier liegen allerdings erhebliche Defizite, die aber durch Mut und Entschlossenheit nicht nur bei der Union sondern bei allen Christen und vor allem bei den Kirchen beseitigt werden könnten, wenn nur der Wille dazu vorhanden wäre. „Sie sind gefordert, das Evangelium zu verkünden, sei es gelegen oder ungelegen, und ein Zeugnis der Hoffnung zu geben“ (Manfred Spieker). Denn „wer das Wertvollste, was er besitzt, zur Versteigerung bringt und meistbietend verscherbelt, darf sich nicht wundern, wenn er bald darauf verarmt. Dessen ist sich die Union bewußt“ (Christoph Böhr). Ist sie das wirklich? Auf jeden Fall sollte sie es unserem Volk wieder bewußt machen. Ein Anfang dazu könnte mit diesem Buch gemacht werden. Bernhard Vogel (Hrsg.): Religion und Politik. Ergebnisse und Analysen einer Umfrage. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2003, 415 Seiten, kartoniert, 16 Euro Gerhard Schröder enthält sich beim Verfassungseid 2002 als erster Bundeskanzler des Gottesbezuges: Freiwillige Selbstpreisgabe
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