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Pankraz, Lawrentij Berija und der politische Imperativ

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Recht drollig wirkt aus heutiger Perspektive jener "politische Imperativ", den Kant in seiner viel diskutierten Friedensschrift von 1795 formuliert hat: "Folge als Politiker nur solchen Maximen, die der Publizität bedürfen, um ihren Zweck zu erreichen!" Gibt es denn für Politiker, so fragen wir heute spontan, überhaupt noch Handlungsmaximen, die auf Publizität verzichten können? Liegt im "Öffentlichkeit Herstellen" nicht der Kern jeder Politik?

Die Zeiten höfischer Arkanpolitik, wo alles durch Geheimabsprachen geregelt wurde, und eines Tages marschierten dann plötzlich die Armeen, sind ja längst vorbei. Sicherlich existieren noch Geheimdienste, Geheimabsprachen, politische Dokumente höchster Geheimhaltungsstufe usw., aber damit aus einem geheimen Kabinettsbeschluß echte, praktische Politik wird, bedarf es in jedem Falle geradezu brüllender Öffentlichkeit. Extra-Imperative sind hier völlig überflüssig.

Nun hat der liebe Kant freilich bei Abfassung seiner Friedensschrift nicht irgendeine Öffentlichkeit im Auge gehabt, sondern hochmoralische, hochelitäre, von "reiner Vernunft" geleitete Debattierklubs und Wochenschriften, etwas anders konnte er sich unter "Publizität" gar nicht vorstellen. Vom "Strukturwandel der Öffentlichkeit", von Fernsehen und Massenpresse, Propagandakriegen und raffinierten Werbetechniken hatte er noch gar keine Ahnung. Andernfalls hätte sein politischer Imperativ wohl sehr viel anders geklungen, etwa so: "Folge als (sowohl gerecht denkender als auch auf Effizienz bedachter) Politiker nur solchen Maximen, die in der sogenannten Öffentlichkeit noch nicht bis zum Skelett heruntergequatscht und totgeredet worden sind!"

Gute Politik und moderne Öffentlichkeit stehen nicht in einem Komplementärverhältnis zueinander, sondern in einem Verhältnis spannungsreicher Divergenz und Konkurrenz. Notwendige, für richtig erkannte politische Maßnahmen müssen gewissermaßen im Halbschatten der Öffentlichkeit legalisiert und ins Werk gesetzt werden, in Perioden, da die Medien vollauf mit Scheinproblemen beschäftigt sind und von den Maßnahmen regelrecht überrascht werden. Ihr Geschrei darf den Maßnahmen nicht vorangehen (dann wird nämlich nie etwas aus ihnen), es sollte sie nicht einmal insistierend begleiten, sondern tunlichst erst hinterher einsetzen, wenn das Gröbste bereits getan ist.

Jemanden mit einer Sache überraschen, heißt nicht, daß man ihn vorher hat belügen müssen. Es heißt aber unter anderem, von vornherein eine politische Rhetorik entwickeln und praktizieren, die vieles offenläßt, ohne deshalb abstrakt und blutleer zu sein. Einer knappen, quasi holzschnitthaften Grundprogrammatik muß eine äußerst elastische Alltagstaktik korrespondieren, die es erlaubt, auf jede nur denkbare Situation und Einrede schnell und glaubhaft zu reagieren.

Während Kant mit seinem politischen Imperativ die Arkanpolitik seiner Zeit ganz offensichtlich unterlaufen und schwächen wollte, käme es heute darauf an, die sogenannte "Öffentlichkeitsarbeit" der politischen Kräfte, ihr ewiges Zum-Fenster-hinaus-Reden, einzudämmen und teilweise in Arkanpolitik zurückzuführen. Vertrauliche Absprachen müssen eingehalten, der Zugang zu Top-Secret-Protokollen streng limitiert werden. Es geht nicht darum, ob ein Regierungschef diesen oder jenen Medienvertreter auf seinen Reisen "mitnimmt" und ihm Interviews gibt oder nicht, sondern es kommt für den Politiker darauf an, aller Eitelkeit zu widerstehen und die eigene Geschwätzigkeit generell im Zaume zu halten.

Das ist natürlich schwierig, besonders unter parlamentarischen Konstellationen, wo es die von Kant vorausgesetzte weitgehende Unabhängigkeit der Politik von der Öffentlichkeit nicht gibt, wo statt dessen zwischen Regierung und Partei bzw. Parlamentsfraktion ein ständiger Willens- und Informationsaustausch stattfindet. Parteien und Fraktionen sind nur noch partiell politische Institutionen im klassischen Sinne, sie gehören heute mindestens zur Hälfte auf die andere, die publizistische Seite und verhalten sich entsprechend.

Daß dies in jedem Falle ein Vorteil für gute Politik sei, ja, sogar ihre Voraussetzung, wird niemand guten Gewissens behaupten. Manchmal ist es tatsächlich ein Vorteil und kann vor schlimmsten Entartungen bewahren. "Folge nur Maximen, die der Öffentlichkeit bedürfen, um ihren Zweck zu erreichen!" Hätten sich Stalin und sein Geheimdienstchef Lawrentij Berija 1940 an diesen Imperativ gehalten, sie hätten ihren Befehl, zehntausend gefangene polnische Offiziere und Beamte zu erschießen, sofort zurücknehmen müssen. Denn jede Öffentlichkeit, selbst die stummelförmige Pseudo-Öffentlichkeit der damaligen Sowjetunion, hätte sich einem solchen Teufels-Befehl so vehement widersetzt, daß er nicht zur Ausführung hätte gebracht werden können.

Wie aber stand es mit dem Angriffskrieg von George W. Bush und seinen Neocons gegen den Irak? Der Plan dazu wurde planvoll publiziert, mit schlauen Propagandalügen unterfüttert und im Stile moderner Werbekampagnen für Verbrauchsgüter inszeniert. Zum Schluß war die – nationale wie internationale – Öffentlichkeit derart verwirrt und gespalten, daß der Feldzug selbst leicht durchgezogen werden konnte. Das Ziel war erreicht, und die moderne Öffentlichkeit hatte dafür den Weg geebnet.

Niemand wagt mittlerweile mehr davon zu sprechen, daß moderne Öffentlichkeit in jedem Falle ein Schutzschild gegen politische Torheit oder Ruchlosigkeit sei. Hier sind Kant und seine Friedensschrift inzwischen voll widerlegt. Die sogenannte "vierte Gewalt" ist keineswegs automatisch klüger oder moralischer als die "erste Gewalt", schon gar nicht sprechen aus ihr das Weltgewissen und die reine Vernunft. Die Suche nach diesen guten Kräften ist weiter offen.

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