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Pankraz, Harun al-Raschid und das Kamelmist-Feuer

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Pankraz, Harun al-Raschid und das Kamelmist-Feuer

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Im Münchner Residenztheater ist zur Zeit eine sehr hübsche Inszenierung von Shakespeares Tragikomödie (oder Spaßtragödie) "Maß für Maß" zu sehen. Der Plot des Stückes besteht darin, daß ein Fürst eines Tages von seinen Regierungsgeschäften Urlaub nimmt und sich, wie einst Harun al-Raschid, unerkannt unters Volk mischt, um sein Reich einmal "von unten" zu betrachten. Er kommt dabei aus dem Staunen nicht heraus, erkennt, daß "die da oben" beim Regieren viel zu viel bloße Prinzipien reiten, statt dem Leben, so wie es ist, seinen angestammten Lauf zu lassen.

Vincentio (so der Name des Fürsten) hat, bevor er abtauchte, einen hochmoralischen, gesetzesversessenen Stellvertreter eingesetzt, doch genau dies erweist sich als schwerer Fehler. Der Stellvertreter verheddert sich alsbald in einen Dauerzwist zwischen Gesetzes-Anerkenntnis und Liebesgefühlen, wird zum Opfer seiner eigenen Rigorosität und richtet viel Unheil an. Vincentio muß so schnell wie möglich wieder an seinen Schreibtisch zurückkehren, und er muß dann zunächst einmal tapfer die Augen zudrücken und knüppeldick Gnade vor Recht ergehen lassen, um die Dinge einigermaßen wieder ins Lot zu bringen.

Shakespeare hat "Maß für Maß" 1604 als weihnachtliche Theatergala für den Hofstaat des neuen englischen Königs Jakob I. geschrieben und aufgeführt. Jakob, Sohn der Maria Stuart, war ein leidenschaftlicher Idealist, Prinzipienreiter und strenger Logiker, der auch als Politiktheoretiker hervorgetreten ist und einen "Fürstenspiegel" verfaßt hat.

Man kann Shakespeare nur wieder einmal bewundern. Der große Stückeschreiber und Theaterleiter hatte die durch den angestrengten Idealismus drohende Schwäche des neuen Jakob-Regimes sofort genau erkannt und warnte den Herrscher nun durch die Blume mit seinem Stück: "Übertreib es nicht, laß auch mal fünfe gerade sein, folge nicht nur Deiner Politlogik, sondern auch Deinem guten Herzen!"

Leider bleibt in "Maß für Maß" unerörtert, ob dem Vincentio sein Harun-al-Raschid-Spielen wirklich etwas eingebracht hat, ob sein Regime also, nachdem er die Fehler seines Stellvertreters ausgebügelt hatte, insgesamt besser geworden ist. Jakob I. seinerseits scheint von jener Weihnachts-aufführung wenig beeindruckt worden zu sein. Er leitete eine Hexenverfolgung in England und Schottland ein, schwankte ewig zwischen Glaubensüberzeugungen und politischen Opportunitäten und verdarb es schließlich mit allen maßgebenden Kräften, mit dem Parlament, mit der Hochkirche und sogar mit dem Papst in Rom.

Der originale Harun al-Raschid, glanzvoller Kalif von Bagdad im achten Jahrhundert, hatte mit seinem sprichwörtlich gewordenen "Ins-Volk-Gehen" zweifellos mehr Glück. Er streifte inkognito durch die Basare, hockte mit Beduinen zusammen an Lagerfeuern aus Kamelmist, und was er dabei erfuhr, lieferte ihm gute Gründe, um so manchen ungetreuen Wesir einen Kopf kürzer zu machen und so manche ränkevolle Haremsdame in die Schranken zu weisen. Harun betrieb mit dem "Ins-Volk-Gehen" offenbar erfolgreich, was in unseren Tagen "Rückkopplung" heißt: Informationsgewinnung zwecks realistischer, von der offiziellen Berater-Kamarilla weder verhinderbarer noch verfälschbarer Folgenabschätzung.

Heutige Politiker amüsieren sich natürlich nur noch über derart primitive Rückkopplung. Sie fühlen sich haushoch überlegen und während jeder Phase voll auf dem laufenden, haben sie doch ihre Meinungsumfragen und die "modernen Medien". Außerdem sind sie längst keine Idealisten mehr wie Jakob I., vielmehr durch die Bank gutgelaunte Zyniker, jederzeit bereit zu faulen, wohlfeilen Kompromissen und dubiosen Durchstechereien.

Trotzdem vernimmt man "im Volk", an den Stammtischen, in der U-Bahn usw. immer wieder die Rede, daß sich die "politische Klasse" in gefährlicher Weise abgekapselt und von der Wirklichkeit entfernt habe, daß sie "keine Ahnung hat von dem, was die Leute denken und wünschen". Auch bestehe eine Riesenkluft zwischen der "veröffentlichten" und der wirklichen allgemeinen Meinung. "Einen Vincentio könnten auch wir gut gebrauchen", hörte Pankraz beim Hinausgehen nach der Münchner Aufführung.

Dem feinerem Anschein nach sind die modernen Medien weit weniger zuverlässig und meinungsdurchlässig, als es üblicherweise dargestellt wird. Ihre Wahrnehmungsorgane sind mehr nach oben gerichtet als nach unten, sie reflektieren vorrangig, was ihnen von oben als Wunsch oder Einbildung oder Dementi vorgetragen wird, verstärken es, schleifen es gegen andere "obige" Einlassungen ab, schneidern ihm gewissermaßen einen virtuellen Raumanzug, so daß den Politikern in dem, was sie medial konsumieren, lediglich ihr eigenes Insider-Geschwätz entgegenschallt.

Im Grunde freilich halten es hiesige Politiker – im Gegensatz zu Harun al-Raschid und Vincentio – gar nicht mehr für notwendig, sich unverstellt über das, was "draußen im Lande" gedacht und gewünscht wird, zu unterrichten. Sie fühlen sich in ihrer Medien- und Bürokratenburg vollkommen sicher, haben ein reiches Instrumentarium zur Meinungsmanipulation geschaffen, und den Rest besorgt für sie der "Verfassungsschutz". Was "das Volk" will, interessiert sie gar nicht, denn letztlich machen sie doch, was sie wollen.

In "Maß für Maß" stellt sich zum Schluß heraus, daß derjenige, um den sich die ganze Handlung dreht, Claudio, der gegen die Regeln verstoßen hat und deshalb scheinbar hingerichtet worden ist, doch noch lebt und deshalb positiv in die Endabrechnung einbezogen werden kann. Allein dadurch wird das Stück vor dem Tragödienstatus bewahrt, kann als Komödie über die Bühne gehen. Ob das derzeitige Berliner Politikgehudel halbwegs noch als Komödie enden wird, steht in den Sternen.

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