Das 18. Jahrhundert war die Grenzscheide zweier Zeiten. Vom frühen Mittelalter bis zum ausgehenden Barock wölbte sich eine langüberlieferte kanonisierte Vorstellungswelt über das Leben aller, deren objektiver Charakter das subjektive Erleben weit überstrahlte. Ihr Symbol war Gott. In der Kunst, deren Aufgabe ja wiederum die Aufrichtung von Symbolen Gottes ist, ergab sich aus diesem übergeordneten Bezug die Einheit und Sicherheit des Stiles, der zudem auf ein gestalthaftes Denken gründete. Dagegen zog in der Aufklärung das begrifflich abstrakte Denken auf, das mit der Französischen Revolution die politische Durchsetzung erlangte. Religiöse Bindung schwand ebenso, wie das Allgemeingut der Sprache der bildenden Kunst. Dies vollzog sich in langem Verlauf und hatte schon jahrhundertelang Vorläufer, denn alles ist immer anwesend. Da nun die überlieferten überpersönlichen Formen an Wert verloren, entstand ein Moment der Unsicherheit, als an ihre Stelle das Persönliche und Subjektive trat. Stil wandelte sich in Stilisierung. Tragisches Beispiel in der deutschen Malerei wurde Asmus Jakob Carstens, dessen Geburtstag sich am 10. Mai zum 250. Mal jährt. Sein Leben wurde zum Symbol eines veränderten Künstlertums, das alles dem inneren Feuer, nichts den äußeren Umständen verdanken wollte. Bei Schleswig als Müllersohn in bescheidenen Verhältnissen geboren, schaffte er erst 1776 mit bereits 22 Jahren den Umzug nach Kopenhagen, um dort seine autodidaktischen Studien zu treiben. Er besuchte Anatomiekurse an der Akademie und prägte sich die Abgüsse nach antiken Skulpturen ein, um sie zu Hause auswendig zu Papier zu bringen. Früh keimte seine Abneigung gegen Akademienzwang. Als 1782 Carstens die Silbermedaille eines Wettbewerbes zurückwies, da er selbstbewußt den ersten Preis verlangte, präsentiert ihm die brüskierte Akademieleitung den Ausschluß. Nach einer aus Geldnot abgebrochenen Italienreise ließ er sich in Lübeck nieder. Erst 1788 gelangte er durch Förderer nach Berlin, wo er 1790 als Professor der Zeichenklasse an die Akademie berufen wird. Seine Stellung benützte er allerdings nur zur Erlangung eines ersehnten Rom-Stipendiums, das ihm 1792 für zwei Jahre gewährt wurde. Endlich am Ziel konnte er die Kunstwerke, die ihm zwei Jahrzehnte Leitbilder lang gewesen waren, im Original studieren. Seine Bindung an Rom, wo er im Mittelpunkt der deutschen Malerkolonie stand, war so stark, daß er sich selbst nach verlängert gewährtem Aufenthalt und mehrfacher Mahnung weigerte, nach Berlin zurückzukehren. Es kam zur berühmten Auseinandersetzung, die allgemein als historischer Auftakt vieler Sezessionsbestrebungen gewertet wird. An den Akademiekurator Minister von Heinitz ergingen die programmatischen Worte: „Übrigens muß ich Euer Excellenz sagen, daß ich nicht der Berliner Akademie, sondern der Menschheit angehöre; und nie ist es mir in den Sinn gekommen, auch habe ich nie versprochen, mich für eine Pension, die man mir für einige Jahre zur Ausbildung meines Talents schenkte, auf Zeitlebens zum Leibeigenen einer Akademie zu verdingen …“. Hier vollzog sich ein beispielhafter Bruch in der Kunstgeschichte. Ein Künstler kappte alle traditionellen Bindungen, um einsam die eigene Vorstellungswelt ohne Einspruch ausformen zu können. Seine Werke behandeln meist antike Themen in heroischem Charakter. Sie stützen sich nie auf den Anwurf sichtbarer Wirklichkeit, sondern lediglich auf eigenes Erfinden, getreu dem späteren Wort Caspar David Friedrichs: „Schließe dein leibliches Aug, damit du mit dem geistigen Auge zuerst siehest dein Bild.“ Seit seiner Berliner Zeit mehrten sich die geschaffenen Kartons mit Themen wie „Der Morgen“ (1788), „Der schwermütige Ajax und Tekmessa“ (1789) oder „Priamos bittet Achill um den Leichnam seines Sohnes“ (1794). Seine Gestalten werden nie illusionistisch in den Raum eingebunden, der Bildraum entsteht allein aus dem Beieinander der Figuren, von denen jede einzeln für sich stehen bleibt, um dennoch der Gruppe zuzugehören, sozusagen als figürliche Freiheit in der Gebundenheit. Dieser Figurenstil widersetzt sich in seiner strengen Sparsamkeit einer allzu sinnlichen Vergegenwärtigung. Carstens‘ sichtbares Vorbild war die Plastik der Griechen, und so wirken seine Zeichnungen manchmal wie Bildhauerkunst. Das Kolorit wird dem Umriß geopfert. Es war kein Zufall, daß er stark auf Thorvaldsen einwirkte, den er noch kennenlernte. Ein Maler im eigensten Sinne war er kaum. Seine selbstverschuldete Mangelhaftigkeit in der künstlerischen Ausbildung konnte er bis zuletzt nicht ausgleichen. So bleibt an seinem Werk eine gefährliche Trennung von künstlerischem Entwurf und handwerklicher Ausführung. Die Zahl seiner Gemälde ist rar, wenige sind erhalten wie etwa „Bacchus und Amor“ (1796), dessen nahezu einfarbig ausgeführten Figuren wie Marmorstatuen wirken. Die große Bedeutung Carstens‘ ruht in seiner Zeichnung, die noch bis Cornelius wirkte. Bleibendes Meisterwerk ist seine „Nacht mit ihren Kindern“ aus dem Jahre 1795, eine schwarze Kreidezeichnung auf braunem Karton. Die Nacht breitet ihre Arme über ihre schlafenden Kinder aus. Diese sind der Tod mit verlöschender Fackel und der Schlaf mit Mohnblumen als Attribute. Zur Linken glüht der Blick der rächenden Nemesis, die eine Geißel hält. Dahinter erscheint das verhüllte Schicksal und die drei Parzen Lachesis, Klotho und Atropos. Letztere hält das Knäuel des Schicksals in der erhobenen Linken, eine Schere in der Rechten. Keine der Gestalten nimmt auf den Betrachter Bezug. Die Quelle dieser Szene geht auf Hesiod zurück und hat keine antike Bildtradition. Die ausgebreiteten Arme sind Carstens‘ eigene Erfindung, wodurch die Szene trotz ihrer asymmetrischen Komposition zu einem Ganzen gehalten wird. Das urmütterliche Umfangen trägt einen innerlichen Erlebnisgehalt. Solch Werk hätte seinen Sinn in der Monumentalmalerei gefunden. Carstens‘ Freund Carl Ludwig Fernow schrieb über ihn aus Rom: „Seine Seele lebt nur in Götterkriegen, Titanenschlachten, im Hesiodos und Homer. Er wünscht nichts Sehnlicheres als eine Wand, siebenzig Ellen hoch wie die von Michelangelos Jüngstem Gericht, um sich tot daran zu arbeiten und unsterblich zu werden wie er.“ Es war die Tragik des Künstlers, in seiner reifen Zeit ohne Auftraggeber zu sein. Es war auch das Ergebnis seiner Entscheidung, sich aller Bindungen zu entheben. Eine freie Kunst ist auch ihrer Stützen beraubt. Die politischen Verhältnisse Frankreichs wären ihm günstiger gewesen, wie das Beispiel Jacques-Louis Davids lehrt. Carstens‘ aquarellierte Kreidezeichnung „Eteokles‘ Aufbruch zum Kampf“ (1797) kann wie eine Antwort auf dessen berühmten „Schwur der Horatier“ (1784) gesehen werden. Schon 1798 starb der ewig kränkelnde Carstens. Freund Fernow überführte seinen Nachlaß später nach Weimar, wo dieser 1804 zum großen Teil von Goethe erworben wurde. Unter großer Anteilnahme der deutschen Künstler wurde Carstens an der Cestius-Pyramide beigesetzt. Sein Werk, seine kompromißlose Lebensführung, die ganz dem künstlerischen Streben untergeordnet war, seine politische Unbeugsamkeit und sein früher Tod sicherten ihm die Verehrung seiner Zunft, gerade in einer Zeit, die von einem neuen Genieverständnis bestimmt wurde. Tragisch bleibt das unvollendete Werk Asmus Jakob Carstens‘. Er war nur, wie Goethe ihn später nannte, das „unreif weggemähte Talent“. Bild: Asmus Jakob Carstens, „Die Nacht mit ihren Kindern“ (1795): Figürliche Freiheit in der Gebundenheit