Vorvergange Woche in Rom gaben sich die europäischen Staats- und Regierungschefs zuversichtlich. Anläßlich der Unterzeichnung der EU-Verfassung feierten sie sich selbst und die Römischen Verträge von 1957. Am Rande dieser Veranstaltung machte sich Bundeskanzler Gerhard Schröder erneut zum Wortführer einer Aufnahme der Türkei in die EU. Gegenüber Journalisten erklärte er, daß nun alles schnell in die Wege geleitet werden würde. Er meinte den zweifelhaften „Anschluß“ Europas an den Großraum Türkei und Nahost. Nach dem Willen der politischen Klasse soll der türkische Staat in die Europäische Union aufgenommen werden, um hier seine „Europäisierung“ zu erfahren. Außerdem soll er den europäischen Zugriff auf die strategischen Regionen der arabischen Halbinsel, des Iran und des „asiatischen Rußlands“ sichern. Faktisch ist es jedoch umgekehrt. Diese Gebiete mit ihren vielen Völkern und Kulturen, sozialen Spannungen und Überbevölkerungen drohen langfristig Europa in den Sog einer „Asiatisierung“ zu zerren. Die mannigfaltigen sozialen Probleme, Konflikte, Rechtsbrüche dort würden bei offenen Grenzen auf Europa übertragen werden. Das türkische Heer steht in einer engen „Waffenbrüderschaft“ zur israelischen Armee und ist kriegslogisch in die Konflikte im Irak und in Nahost verwickelt. Der latente Krieg dort kann jederzeit offen ausbrechen, wird die Kurdenfrage im Sinne der Militärmacht Türkei gelöst. Die geopolitischen Miseren neuer Kriege und Bürgerkriege würden auf Europa zurückwirken. Mehr noch, die Kriegskosten würden sehr schnell auf Europa abgewälzt werden, hat doch die Türkei genauso wie Israel einen chronisch defizitären Staatshaushalt. Da die USA sicherlich nicht auf Dauer willens sind, diese Mächte immer wieder finanziell auszuhalten, soll nun also Europa in die Verantwortung genommen werden. Damit läßt es sich auf ein Abenteuer ein, das den Bürgern hohe Kosten aufbürden würde. Zudem nimmt der Kanzler, der den USA die deutsche Unterstützung im Irak-Krieg versagt hatte, bei seiner Türkei-Politik billigend in Kauf, daß Deutschland und Europa in kriegerische Auseinandersetzungen gezogen werden. Aber gerade diese Zusammenhänge sollen in der Öffentlichkeit möglichst nicht thematisiert werden. Die Türkeifrage soll gewissermaßen „nebenbei“ erledigt werden. Buttiglione als Bauernopfer der Unzufriedenheit Durch den „Fall Buttiglione“ nun ist sichtbar geworden, daß die politische Klasse des Kontinents nicht nur nationale Traditionen, sondern die europäische Kultur dem neuen euroasiatischen Maßstab opfern will. Der Fall wurde hochgespielt, um abzulenken und das Augenmerk auf andere Dinge zu lenken. Ein hoffnungsloser Reaktionär sollte in die Schranken gewiesen werden. Die fortschrittliche Gesinnung sollte triumphieren. Dabei verrieten die Akteure durch ihren propagandistischen Eifer, wes Geistes Kind sie sind. Zur Erinnerung: Der neue Präsident der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso, hatte seine Kommissare vorgeschlagen, die nach vielen Mühen hinter den Kulissen und zwischen den Regierungen, jedoch außerhalb des Europäischen Parlaments, ausgehandelt worden waren. Jetzt sollten sie im Parlament „durchgewunken“ werden, obwohl einigen Kandidaten Inkompetenz und sogar Korruption nachgesagt wurde. In einer Situation, in der das europäische Experiment durch die Osterweiterung und durch die Hineinnahme des kleinasiatischen Großraums zunehmend in Schwierigkeiten gerät, schmiedete der portugiesische EU-Präsident mit Unterstützung der europäischen Regierungschefs eine „Große Koalition“ der unterschiedlichen politischen Lager. Riesige finanzielle Kosten kommen auf die Gemeinschaft zu. Die Volkswirtschaften sollen für die neuen Mitglieder Gelder aufbringen in einer Situation, wo durch Arbeitslosigkeit, Bankrotte, Betriebsschließungen und industrieller Umverlagerungen die nationalen Haushalte diese Belastungen kaum aushalten. Vor diesem Hintergrund wurden die eher konservativen und rechten Parteien wurden in ein Bündnis mit den liberalen und linken Kräften eingebunden. Es entstand eine Art europäische Einheitsfront, deren verschiedene Flügel ihre jeweiligen Kandidaten für die EU-Kommission gegenseitig durchwinken sollten. Bei den Linken und Liberalen blieb jedoch ein Unbehagen übrig. Sehr bald ergab sich die Gelegenheit, die Unzufriedenheit zu artikulieren. Allerdings wurde nicht über den „Kuhhandel“ gesprochen, sondern die Distanzierung geschah über ein Nebengleis. Der designierte italienische EU-Kommissar Rocco Buttiglione, Christdemokrat, Vertrauensmann von Ministerpräsident Silvio Berlusconi und Repräsentant der Katholischen Kirche, äußerte private Ansichten über die Homosexualität als „Sünde“ und über die Größe der „Heiligen Familie“. Ihm war die öffentliche Anerkennung der homosexuellen Liebe suspekt, und er erinnerte daran, daß die Familie Mutter und Kindern einen Schutzraum gewähren muß. Leidenschaft aus Lust und Laune zerstöre jede Verantwortung und zerreiße den sozialen Zusammenhalt der Menschen. Zugleich machte er deutlich, daß er diese Meinung nicht zum Gradmesser von Politik machen werde. Aus seiner privaten Meinung wollte er jedoch keinerlei Hehl machen. Der Skandal war programmiert. Liberale und Linke im Europäischen Parlament wollten Farbe bekennen und nutzten die Gelegenheit, auch dagegen zu protestieren, daß sie die Kulissenschieber einer Wahlfarce waren und verfassungsmäßig dieses Parlament nur beschränkte Kontrollrechte sowie keinerlei Entscheidung bei der Auswahl der einzelnen Kommissare besitzt. Das ist Angelegenheit des Präsidenten und der Regierungschefs. Das Europäische Parlament ist eine Art „Volkskammer“, das dem Präsidenten der EU so wenig auf die Finger schauen kann wie den einzelnen Regierungschefs. Letztlich ernennen diese den Präsidenten, der durch das Parlament lediglich bestätigt wird. Das parlamentarische Europa besitzt nur wenig Macht, und auch seine jetzt unterschriebene, aber noch nicht ratifizierte Verfassung ist nicht vergleichbar mit den Revolutionsverfassungen der USA oder Frankreichs. Das neue Europa ist nicht Ergebnis von Volksbewegungen oder gar Revolutionen, es ist ein Konstrukt der faulen Kompromisse, die in Brüssel ausgebrütet werden. Kein Mitgliedsstaat soll dominieren, und Politik wird auf den bürokratischen Ausgleich gemünzt. Der „Reaktionär“ Buttiglione wurde als Bauernopfer auserkoren, weil er aus dem „rechten Lager“ stammt und Katholik ist. Ehemalige kommunistische Kader und Offiziere der Geheimpolizei dagegen, etwa der Ungar László Kovács, waren kein Stein des Anstoßes. Im Sinne einer säkularisierten Weltanschauung wollten die Linken über das alte Europa zu Gericht sitzen, um das neue Europa der unzähligen Kompromisse zu feiern. Nicht die Demokratisierung der europäischen Verfassung war das Anliegen des Protests. Es gab keinerlei Ideen, den Präsidenten der EU durch das Volk wählen zu lassen oder einzeln abzustimmen über die Kommissare im Parlament. Auch an Volksabstimmungen über die „Schicksalsfragen“ Europas, etwa die Hineinnahme der Türkei in die Union, wurde nicht gedacht. Lediglich eine Schmierenkomödie wurde aufgeführt. Die Parlamentarier gaben unbewußt zu erkennen, daß dieses Europa in schlechten Händen ist. Die Linksdemokraten hatten bei ihrem Manöver übersehen, daß Buttigliones Recht auf seine private Meinung zu jenen Grundfreiheiten gehört, die sie schützen und bewahren wollten. Auch in der Europäischen Verfassung beschreiben die Freiheits- und Menschenrechte die Grundlage und den Auftrag der EU. In ihrem Namen erfolgte die Osterweiterung, und auch die „Europäisierung“ der Türkei wird mit ihnen begründet. Christliche und protestantische Sektierer hatten in Nordamerika diese Menschenrechte im Unabhängigkeitskampf gegen die Kolonialmacht England herausgestellt. Französische Revolutionäre hatten sie gegen die absolutistische Selbstherrschaft verkündet. Dabei hat kein Aufklärer je bestritten, daß diese Rechte sich auf die jüdisch-christliche Religion beziehen und den Atem der griechischen Philosophie tragen. Sicherlich ist der alte Katholizismus ein schlechter Sachwalter dieser Rechte gewesen, diente er doch über lange Zeiten hinweg einem despotischen Staatsbetrieb. Inzwischen hat dieser Glauben viele „Reformationen“ erlebt und dadurch vor allem gegen die atheistischen Weltanschauungen seine Größe bewahrt. Ihn heute zu bannen und zum Inbegriff der Reaktion zu erheben, kann nur bedeuten, Abstand von der europäischen Tradition zu nehmen. Gilt den europäischen Linksparlamentariern die eigene Verfassung nicht viel, so bleibt zu fragen: Wie reflektierten sie den europäischen Liberalismus, Sozialismus oder Konservatismus? Sind diese Ideologien nicht hindurchgegangen durch die unterschiedlichen Bürgerkriege, Kriege und Diktaturen und haben doch zurückgefunden zu ihren grundlegenden „christlichen“ Wurzeln? Oder wollten die Parlamentarier nur kundtun, daß sie zur Fraktion der hoffnungslosen Opportunisten gehören, die je nach politischer Lage ihre Gesinnungen wechseln wie die Hemden? Der Untergang des alten Europas Besitzt das christliche Europa mit seinen Fortsetzungen und Aufhebungen über die vielen Ideologien für sie keinerlei Bedeutung, so kann das nur bedeuten, daß die Politiker offen sind für die neuen Einflüsse, die aus USA, Nahost oder der Türkei kommen. Eine Islamisierung Europas liegt nun genauso im Bereich des Möglichen wie eine Fundamentalisierung der christlichen Religion, die zum Endkampf gegen das „Böse“ drängt. Die vielen Wendehälse geben zu erkennen, daß ihnen alles egal ist, solange sie irgendwie an der Macht bleiben. Linke, Liberale und weite Teile der Medien haben im Kampf gegen die „Reaktion“ einfach ignoriert, daß in Europa immerhin über 200 Millionen katholische Bürger leben. Offensichtlich ist ihnen dieses katholische Europa so egal wie das protestantische, liberale, konservative oder sozialistische Europa. Sie verhöhnen den Katholizismus, haben jedoch gleichzeitig nichts zu bieten als ein paar multikulturelle Phrasen. Ihr Ideal ist der Turmbau zu Babel, dessen Einsturz sie freilich ebenso ignorierten. Nicht verständlich zu machen ist ihnen auch, daß das neue Europa nur aus der Anerkennung und Bewahrung der nationalen und christlichen Traditionen entstehen kann. Dazu gehört die Demokratisierung und die Teilhabe der Völker an politischen Entscheidungen. Die europäische Konstruktion der parlamentarischen Demokratie gibt zu erkennen, daß die Wähler von den demokratischen Prozessen ferngehalten und über Parteien, Bündnisse und Regierungskoalitionen verwaltet werden sollen. Dagegen nicht zu protestieren, sondern eine Farce aufzuführen, demonstrierte die Schwäche der Parlamentarier. Sie konnten nicht verhehlen, daß sie nicht mehr waren als „Blockflöten“, mit deren Zustimmung gerechnet wurde. Wie werden sie reagieren, kommen auf Europa Verschuldungen oder die Teilhabe an den unterschiedlichen Kriegen zu? Wie werden sie umgehen mit den massiven Einwanderungen einer außereuropäischen Überbevölkerung, die in Europa das „gelobte Land“ sehen? Wie werden sie die wachsende Armut und Arbeitslosigkeit in den eigenen Gesellschaften kommentieren? Der „Fall Buttiglione“ läßt erkennen, daß weite Teile der Linken und Liberalen einer Enteuropäisierung Europas das Wort reden. Und in letzter Konsequenz werden sie mit dem christlichen Abendland auch alle Werte von Demokratie und Recht beseitigen. Prof. Dr. Bernd Rabehl , Jahrgang 1938, war einer der engsten Weggefährten Rudi Dutschkes und lehrte bis 2003 Soziologie an der Freien Universität Berlin.
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