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„Der Weg zu mir führt durch den Traum“

„Der Weg zu mir führt durch den Traum“

„Der Weg zu mir führt durch den Traum“

 

„Der Weg zu mir führt durch den Traum“

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Ein Jahr nach ihrer Hochzeit , 1908, erkrankte Ina Seidel an Kindbettfieber. Eine zurückbleibende Gehbehinderung und der Rat der Ärzte, mit dem nächsten Kind zehn Jahre zu warten, ließen den Entschluß in ihr reifen, sich der Schriftstellerei zu widmen. Das Talent lag in der Familie: Ihr Schwiegervater und Onkel Heinrich Seidel war Schriftsteller, ebenso ihr Mann und Vetter, der Theologe Heinrich Wolfgang Seidel, und ihr Bruder Willy. In den ersten Gedichtbänden von 1914/15, die sie unter dem Titel „Weltinnigkeit“ (1918) zusammenfaßte, behandelt sie die Themen, denen sie treu bleiben wird: Religion und Natur, Mutterschaft und Tod. Ina Seidel wurde am 15. September 1885 als älteste Tochter eines Arztes in Halle/Saale geboren und wuchs in Braunschweig auf. Nach dem Freitod des Vaters 1897 zog die Familie nach Oberbayern. Dies hinterließ Spuren in ihrem Romanerstling „Das Haus zum Monde“ (1916). Auch dort überschattet der Selbstmord des Vaters das Leben der Familie. Und in der Fortsetzung „Sterne der Heimkehr“ (1921) durchleben norddeutsche Städter zu Fronleichnam im Voralpenland einen Sommernachtstraum, in dem sich neue Paare finden. Ina Seidel hat ihren Stil gefunden: Die Landschaftsbeschreibungen sind trotz aller Schwelgerei realitätsnah. Innere Monologe sowie Träume dienen den Protagonisten zur Standortbestimmung. Auf die indirekte Rede mit den nötigen Konjunktivverrenkungen wird sie später weitgehend verzichten, dafür den Dialog im Sinne der Gesellschaftsromane des 19. Jahrhunderts ausbauen. Das Motiv der Mutter kommt in unterschiedlichen Ausführungen zum Tragen: Muttermord, Ödipuskomplex und vor allem immer wieder die gute, geduldige Mutter. Ina Seidels eigene Geduld als Mutter wurde harten Prüfungen unterzogen. 1918 starb eine Tochter noch im Säuglingsalter. Sie stürzte sich darauf in „Das Labyrinth“ (1922), die Biographie des Danziger Naturforschers George Forster, der von innerem Schmerz und äußeren Wirrungen der Wende des 18. zum 19. Jahrhunderts getrieben zu sich selbst findet. Auch „Das Wunschkind“ (1930), ihr größter Erfolg, spielt in der Revolutionszeit. Christoph Edler von Mespelbrunn wird in der Nacht gezeugt, in der sein einjähriger Bruder stirbt und die Eltern voneinander Abschied nehmen. Der Vater fällt am darauffolgenden Tag bei der Belagerung von Mainz. Der Titel ist bezeichnend: Bei Christoph handelt es sich anscheinend um eine Kopfgeburt seiner Mutter, denn in der beschriebenen Nacht bleibt eigentlich keine Zeit für Zweisamkeit. Zeitlose Gültigkeit christlicher Nächstenliebe Dieses Wunschkind ist ein Wunderkind. Allein durch seine Gegenwart erhält er seine Cousine und Milchschwester Delphine am Leben. Delphine bleibt sein unsteter Gegenpart. Alles scheint auf die Hochzeit der beiden hinauszulaufen. Doch Christoph fällt in den Befreiungskriegen, und Delphine brennt mit einer Theatertruppe durch. Die eigentliche Hauptperson ist die Mutter Cornelie. Sie steuert die Familien ohne männlichen Beistand durch die schwierigen Zeiten, verzichtet auf eine Liebesheirat, sucht den Ausgleich zwischen Katholizismus und Protestantismus und leidet sowohl unter der Schwiegermutter als auch unter ihrem unberechenbaren Vater. Getragen wird sie von der Hoffnung, daß eines Tages die „Tränen der Frauen stark genug sein werden, um gleich einer Flut das Feuer des Krieges zu löschen“. Wenn Ina Seidel die Handlung in ein anderes Jahrhundert verlegt, flieht sie nicht vor ihrer Zeit, sondern verdeutlicht die zeitlose Gültigkeit der christlichen Nächstenliebe. Dafür steht ihr Hauptwerk „Lennacker. Das Buch einer Heimkehr“ (1938). Der Leutnant und Medizinstudent Hansjakob Lennacker begeht das Weihnachtsfest 1918 in einem prostestantischen Damenstift, dem seine Tante vorsteht. Von ihr erfährt er, daß die Lennackers seit den Reformationszeiten Pfarrer waren. Als er an einer Grippe erkrankt, erlebt er im Fiebertraum seine zwölf Vorfahren in Entscheidungssituationen. Es beginnt mit der Hinwendung des ersten Lennackers zu Martin Luther. Aber schon mit dem zweiten Lennacker, der eine Schankwirtschaft betreiben muß, um als Dorfpfarrer überleben zu können, wird klar, daß Seidel die dunklen Seiten der Geschichte nicht verschweigt: Der vierte Lennacker wird im Dreißigjährigen Krieg von den Schweden erschlagen, und der Widerstand des fünften Lennackers gegen einen Hexenprozeß ist zum Scheitern verurteilt. Auch wo die Probleme nichtig scheinen, drohen die Pfarrer zu versagen. Nicht alle Geschichte sind düster. Im Falle des achten Lennackers löst die Pfarrfrau wie in einem Schäferspiel alle Probleme durch Liebesheiraten. Allgemeinbildung erleichtert die Lektüre, denn Seidel läßt sich nicht auf lange Erklärungen ein. Der geschichtliche Hintergrund geht direkt aus der Handlung hervor. Die Beschreibungen der Lebensverhältnisse sind genau, aber nicht kleinlich. Auch die Namen sprechen: Martinus ist der Sohn des ersten Lennackers und Justus Erdmann ein Kind des Pietismus. Geduld wird dem Leser abverlangt, wenn sich die Protagonisten in langen Dialogen über Glaubensfragen verlieren. Abschnittsweise liest sich das Buch dann wie die Pflichtlektüre für Konfirmanden. Bis zu ihrem Tod erlebte Seidels Werk viele Auflagen Die Bücher Ina Seidels stehen in Beziehung zu einander. Wenn der neunte Lennacker nach der Schlacht bei Saalfeld einen preußischen Leutnant vor den Franzosen versteckt und die Pfarrfrau dem Verwundeten mit den Worten „die arme Mutter“ hilft, ist der Bogen zum „Wunschkind“ gespannt. Im Laufe der Rahmenhandlung wird ersichtlich, daß Hansjakobs Mutter aus der Linie der Edlen von Mespelbrunn stammt. Die biographische Lücke schließt sich im „Unverweslichen Erbe“ (1954): die Urgroßmutter Hansjakobs war wahrscheinlich das uneheliche Kind von Christoph und Delphine. Dieser Roman reicht nicht an „Lennacker“ oder das „Wunschkind“ heran, denn den Seelen fehlt die Sinnlichkeit. Eindeutig negativ werden in allen drei Büchern die herrschsüchtigen Väter dargestellt, die ihre Kinder verstoßen, sobald diese nicht nach ihrem Willen handeln. Ina Seidel bearbeitete nicht nur historische Stoffe. „Der Weg ohne Wahl“ (1933) spielt zu Beginn des Ersten Weltkrieges und beschreibt die Geschichte eines Geschwisterpaares, das sich aus einer geheimnisvollen Schicksalsgemeinschaft löst, die beide seit Kindertagen verbindet. In „Michaela“ (1959) setzt sich Seidel mit dem Nationalsozialismus auseinander. Durch Einfügung von Briefen und Tagebuchnotizen löst sie die geschlossene Romanform auf. Das Verlassen der allwissenden Erzählposition verdeutlicht, daß „Michaela“ eine Annäherung ist, kein abschließendes Urteil. Neben den großen Romanen hat Ina Seidel eine Reihe von Erzählungen verfaßt, heitere wie „Der Garten“ und „Das Pfauenauge“, historische wie „Die Fürstin reitet“ über Katharina die Große und mystische wie „Unser Freund Peregrin“ (1940), in dem sie den Tod ihres Bruders verarbeitet. Bilanz über das Alt-sein und Sterben zieht sie in der „Fahrt in den Abend“(1955), in der sich ein alter Arzt träumend in seiner Sterbestunde mit seiner Vergangenheit aussöhnt. Bis zu Seidels Tod am 2. Oktober 1974 erlebte ihr Werk viele Auflagen. Noch heute sind „Das Wunschkind“ und „Lennacker“ lieferbar, ebenso einige andere Bücher der schreibenden Seidel-Sippschaft. Einzig von ihrem Sohn Georg Heinrich Seidel, der in den fünfziger Jahren unter dem Namen Simon Glas veröffentlichte, ist nichts mehr erhältlich.

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