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Den Thanatos als Eros entlarvt

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Den Thanatos als Eros entlarvt

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Es ist die wohl meistzitierte und umstrittenste Stelle deutscher Kriegsprosa. In seinem Tagebuch des Zweiten Weltkrieges, „Strahlungen“, notierte Ernst Jünger unter dem Datum des 27. Mai 1944 : „Alarme, Überfliegungen. Vom hohen Dache des Raphael sah ich zwei Mal in der Richtung von St. Germain gewaltige Sprengwolken aufsteigen, während Geschwader in großer Höhe davonflogen. Es handelt sich um Angriffe auf die Flußbrücken. Die Art und Aufeinanderfolge der gegen den Nachschub gerichteten Maßnahmen deutet auf einen feinen Kopf. Beim zweiten Male, bei Sonnenuntergang, hielt ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand. Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit, gleich einem Blütenkelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird.“ In der Gesamtausgabe ergänzte Jünger den Eintrag um den Satz: „Alles war Schauspiel, war reine, von Schmerz bejahte und erhöhte Macht.“ Immer wieder ist diese Stelle sowohl in der wissenschaftlichen wie in der feuilletonistischen Publizistik als Beleg für Ernst Jüngers Eiseskälte, seine „menschenverachtende“ und „kriegsverherrlichende“ Haltung, seine „Inhumanität“ zitiert worden. Der Arzt und Buchautor Martin Konitzer schrieb in seiner Jünger-Monographie (1993), dieser Passus werde stets „als Exempel für Jüngers barbarisch genießerische Ästhetisierung des Schrecklichen und des Leidens anderer Menschen gegen ihn vorgebracht“. Und der französische Germanist und Jünger-Übersetzer François Poncet konstatierte, die Schilderung sei der Gipfelpunkt, „an dem sich die Geister nicht scheiden, sondern gegen Ernst Jünger zusammentun“. Nur wenige Jünger-Exegeten zweifelten an der vorherrschenden Lesart der ebenso berühmten wie berüchtigten Tagebuch-Eintragung. François Poncet vermutete, Ernst Jünger habe hier „sein größtes und gelungenstes Vexierbild dargeboten“. Martin Meyer wertete in seiner Jünger-Biographie (1990) die Metapher von der „tödlichen Befruchtung“ als Paradox, das ungelöst bleibe, und der Literaturwissenschaftler Jörg Sader sah in seiner Untersuchung „‚Im Bauche des Leviathan‘. Tagebuch und Maskerade. Anmerkungen zu Ernst Jüngers ‚Strahlungen'“ (1996) in den Erdbeeren eine Chiffre, ein offenbar „privates“, nicht aufklärbares Symbol. Doch jetzt, bald auf den Tag genau sechzig Jahre nach der Niederschrift und sechs Jahre nach dem Tod Jüngers, scheint es, als sei das Rätsel gelöst. Jedenfalls bietet der 27jährige Germanistik-Student und Jünger-Forscher Tobias Wimbauer zum ersten Mal eine völlig neue Interpretation der umstrittenen Szene an. Danach wären die Jünger wegen dieser Tagebuch-Eintragung gemachten Vorwürfe samt und sonders nicht mehr haltbar. Für einen Aufsatz in der von ihm in der Edition Antaios, Schnellroda, herausgegebenen Reihe „Das Luminar. Schriften zu Ernst und Friedrich Georg Jünger“ (JF 12/03) hat Wimbauer die Hintergründe der Burgunderszene bis in alle Winkel ausgeleuchtet. In seinem Text, der dieser Zeitung als Manuskript vorliegt, moniert er, daß der Literarizität von Jüngers Notat nicht Rechnung getragen worden sei und „in naiver Weise das Erzähler-Ich mit dem Autor in Deckungsgleichheit gebracht wird“. Alle bisherigen Deutungen seien an der Oberfläche der Textbilder geblieben. In seiner fußnotengesättigten Untersuchung der biographischen, literarischen und religiösen Bezüge sowie der von Jünger verwendeten Metaphern und Symbolik kommt Wimbauer nun zu einem anderen Schluß: „Die Burgunderszene kann so gelesen werden, daß sie nicht einen Fliegerangriff auf das besetzte Paris schildert, sondern daß sie die metaphorisiert-verschleierte Schilderung einer eskalierten Liebesaffäre Jüngers ist.“ Belege für seine These kann Wimbauer reichlich anführen. So habe es zum Zeitpunkt der Burgunderszene überhaupt keine Luftangriffe auf Paris gegeben, die vordergründige Schilderung Jüngers sei fiktiv. Ausweislich des Studiums der einschlägigen Literatur und Akten, einschließlich des Kriegstagebuchs des Oberkommandos der Wehrmacht, hat es zwar gegen die Mittagszeit einen Fliegerangriff auf Paris gegeben, nicht aber am Abend („bei Sonnenuntergang“) des 27. Mai 1944. Außer bei Ernst Jünger konnte Wimbauer jedenfalls keinen einzigen Hinweis darauf finden. Den zweiten Luftangriff bei Sonnenuntergang gab es nicht Wimbauer baut eine lückenlose Indizienkette auf, die nahelegt, daß es sich bei der Burgunderszene mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine verschlüsselte Schilderung der Umstände einer Liebesbeziehung Jüngers mit der deutschstämmigen Kinderärztin Sophie Ra-voux, geborene Koch, handelt. Wimbauers früheren Recherchen für sein „Personenregister der Tagebücher Ernst Jüngers“ (JF 48/99, 19/03) zufolge verbirgt sich Sophie Ravoux in den „Strahlungen“ gleich hinter fünf Decknamen: „Doctoresse“, „Camilla“, „Charmille“, „Mme. d’Armenonville“ und „Mme. Dancart“. Jüngers damaliger Ehefrau Gretha blieb die Affäre nicht verborgen. Just im Mai 1944 erfuhr sie vermutlich zum zweiten Mal von der Beziehung ihres Mannes zu Sophie Ravoux. Die Eintragungen zu jener Zeit in ihrem eigenen, heute nur schwer zugänglichen Tagebuch und Briefjournal „Die Palette“ (1949) sind, so Wimbauer, von „erstaunlicher Parallelität“ zu dem Notat Ernst Jüngers vom 27. Mai 1944. Sodann widmet sich Wimbauer einzelnen Sprachbildern der Burgunderszene und untersucht diese auf literarische, religiöse und entomologische Vorbilder bzw. Interferenzen. So kann er nachweisen, daß Jünger den Ausdruck „Kelch“ häufig mit dem menschlichen Körper gleichsetzte, zuweilen sogar erotisch konnotiert, und Paris für ihn eine „Freundin“ war. In einem Brief Ernst Jüngers an Carl Schmitt heißt es am 28. August 1941: „Es ist die einzige Stadt, zu der ich ein Verhältnis besitze wie zu einer Frau.“ Auch die im Burgunder schwimmenden Erdbeeren weiß der Spurensucher Wimbauer zu deuten. Als sexuelles Symbol finden sie sich nicht nur in zahlreichen literarischen Texten – von François Villons „Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund“ über Gottfried August Bürgers Ballade „Des Pfarrers Tochter von Taubenhain“ bis zu Thomas Manns homosexueller Liebesgeschichte in der Erzählung „Der Tod in Venedig“. Auch in der bildenden Kunst spielen Erdbeeren eine Rolle als erotisches Sinnbild, bekanntestes Beispiel ist das Gemälde „Garten der Lüste“ von Hieronymus Bosch. Und das Paradox von der „tödlichen Befruchtung“? Wimbauer zufolge könnte der Käfer-Sammler Jünger hierfür Anleihe aus der Entomologie genommen haben. Die Käferart Anthonomos rubi, zur Gattung der Blütenstecher gehörend und im Volksmund „Erdbeerstecher“ genannt, war Jünger seit seiner Jugend geläufig. Besonderes Merkmal dieser Gattung ist die „tödliche Befruchtung“. Wimbauer zitiert aus dem Brockhaus von 1953, wo es über die Fortpflanzung der Käfer heißt, daß die Weibchen Knospen anstechen, „um in das Loch ein Ei zu legen. Die fußlose Larve benagt die Blütenblätter und bringt sie zum Absterben. Die Knospe kann sich daher nicht öffnen und wird braun, wie verbrannt (…) das Weibchen beißt den Blütenstiel an, so daß die Knospe welkt und abknickt“. Schließlich verweist Wimbauer auf verschiedene Folien, die Jüngers Niederschrift der Burgunderszene zugrunde liegen könnten. Beispielhaft nennt er Passagen aus Marcel Proust Roman „Die wiedergefundene Zeit“, in denen es um die Unterhaltung zweier Dandys im Paris des Ersten Weltkrieges geht, sodann Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“ sowie die Apokalypse in der Offenbarung des Johannes. Über Proust hat sich Jünger auch mit Sophie Ravoux unterhalten (Eintragung in den „Strahlungen“ vom 7. Januar 1942), die Lektüre der Offenbarung beendete er am Tag nach der Burgunderszene (Eintragung vom 28. Mai 1944). Alles nur Zufälle? Wohl kaum bei einem Mann wie Jünger. Es spricht also viel für die These Wimbauers. Seine Lesart der Burgunderszene ist geeignet, die Jünger-Rezeption in diesem zentralen Punkt gehörig umzukrempeln. Inwieweit sich das tatsächlich in künftigen Arbeiten niederschlägt, bleibt abzuwarten. Noch steht eine Bewertung der Forschungsleistung Wimbauers und ihre Einordnung in den Jünger-Kosmos aus. Foto: Grabstein auf dem Pariser Friedhof Montparnasse mit dem Bildnis von Sophie Ravoux und ihrem Mann Paul (li.), Ernst Jünger am 11. August 1944 in Paris: „Ein Verhältnis wie zu einer Frau“

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