Sein scharfes Auge visierte die Zeugnisse der zweiten Jahrhunderthälfte und verdichtete sie in bestechende Bilder. So gerieten seine Momentaufnahmen selber zu Zeitdokumenten, und Henri Cartier-Bresson avancierte unbezweifelbar zu einem Jahrhundertfotografen. Der Gropiusbau in Berlin widmet ihm derzeit eine umfangreiche Ausstellung, deren Erfolg schon jetzt der Besucherzustrom offenbart. Vereint sind Materialien, die bisher nie gemeinsam gezeigt wurden: frühe Aufnahmen, darunter unveröffentlichte Originalabzüge, ein Großteil des Hauptwerks, Filme von und mit Cartier-Bresson, Bücher und Monografien, seine Zeichnungen und auch persönliche Erinnerungen, darunter seine Porträts aus der Optik seiner Kollegen. Die Wegmarken seines schöpferischen Lebens werden in Erinnerung gerufen. Insgesamt bieten sich 350 Bilder aus dem fotografischen Werk dar. So entsteht vor den Augen des Besuchers das Gesamtporträt des Menschen Henri Cartier-Bresson. Sein Leben kann man als mußeverachtender Mensch beneiden und gutheißen. 1908 bei Paris als Industriellensohn geboren, mußte er nie sein schaffensreiches Leben mit Lohnarbeit verkürzen. Nach zwei Jahren Malstudium leistete er Ende der zwanziger Jahre seinen Militärdienst. 1931 begann er zu fotografieren. Sofort spannte sich ein Reigen von Veröffentlichungen. Schon ein Jahr später sah man seine erste Ausstellung in Madrid. Reisen folgten, lange Aufenthalte in Mexiko und den USA. In den Vogesen geriet er 1940 in Gefangenschaft. Im dritten Versuch gelang ihm im Februar 1943 die Flucht, so daß er ein Jahr später den Einzug der Alliierten in Paris dokumentieren konnte. 1946 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der bis heute legendären Bildagentur Magnum. Nun sah man ihn auf dem gesamten Globus, in Indien, Burma, Indonesien, Ceylon, Pakistan, im Iran und Irak, in Syrien und Ägypten. In China hielt er die letzten Momente vor der Machtübernahme Maos fest. 1954 war er der erste nach der Lockerung des Eisernen Vorhangs zugelassene westliche Fotograf in der UdSSR. Spätere Reisen führten ihn nach Kuba, Kanada, Mexiko, Ungarn, Jugoslawien, Griechenland, Japan und Indien und einige andere Länder. Von überall her brachte er reiche Beute mit. Heute lebt er in Paris. Eine Ahnung von den Möglichkeiten der Welt Untrennbar knüpft sich an den Namen Cartier-Bressons das Schlagwort vom „moment decisif“, dem „entscheidenden Augenblick“, das vielleicht etwas unglücklich gewählt wurde, denn im bezeichneten Augenblick wird weder eine Entscheidung getroffen, noch fällt er sie selbst. Gemeint ist indes das fotografische Festhalten einer ungestellten Szene in einem Augenblick der entscheidenden Verdichtung. Das Leben wird auf frischer Tat ertappt. „Für mich ist dann ein Foto vorhanden, wenn gleichzeitig im Bruchteil einer Sekunde die Bedeutung eines Geschehens sichtbar wird und andererseits die das Geschehen ausdrückenden visuell erfaßten Formen auf eine strenge Weise organisiert erscheinen.“ Der durch vollautomatische Kompaktkameras verdorbene Fotolaie, der das Fotografieren nach einem flüchtigen Blick durch den Sucher und einem Knopfdruck für vollzogen hält, kann sich oft nicht vorstellen, welch vielfältige Vorgänge erst zu guten Bildergebnissen führen und welches Maß von langjähriger Erfahrung und technischer Nachbehandlung vonnöten ist. Die Wahl der Brennweite, der Blende, ebenso der Aufnahmeabstand und die Festlegung des Bildausschnitts, in den die Komposition gestellt wird, wirken auf den Bildausdruck. Die Vielzahl der Perspektiven, die Wahl des Ausschnitts verschafft eine Ahnung von den Möglichkeiten der Welt. Auch gilt es stets das Licht zu beachten, das die Szenerie umspült, ebenso den psychologischen Moment. „Fotografieren heißt, gleichzeitige Erfassung eines Ereignisses und innerhalb von Sekundenbruchteilen die genaue Anordnung des visuell Wahrgenommenen, das es wiedergibt und seine Bedeutung ausmacht. Es bedeutet Kopf, Auge und Herz auf dieselbe Augenhöhe zu bringen. Es ist eine Art zu leben“, schrieb Cartier-Bresson selbst. Er bewegte sich unauffällig durch die Welt, um das von ihm Entdeckte blitzschnell aus ihr hervorzureißen. Das reportageartige Fotografieren ist wie eine Jagd, deren Erfolg von zahllosen Umständen abhängig ist. Passion und Geduld sind dabei nicht die einzigen. Und es bleibt immer ein Unwägbares stehen, ein nicht Bestimmbares, Unnennbares, das auf die Geburt des Bildes einwirkt. Manches große Bild bleibt Fortuna geschuldet. Es versteht sich von selbst, daß sich im Laufe seines Fotografenlebens viele bekannte Zeitgenossen vor seiner gerühmten Optik einfanden wie Ezra Pound, Alfred Stieglitz, Picasso, Pierre Bonnard, Henri Matisse, Coco Chanel, Georges Braque, Igor Strawinsky, Susan Sontag, Colette, Edith Piaf, Che Guevara, Marilyn Monroe, Albert Camus und Balthus, um nur die Bekanntesten zu nennen. Dabei kann man nie von einer Inszenierung von seiten des Fotografen sprechen, eher der Fotografierten, wie etwa Matisse, der sich in die Betrachtung einer weißen Taube vertieft in einen Sessel sinken ließ. Cartier-Bresson nahm auf, was er vorfand, griff nie ein. Er bestimmte lediglich den Ausschnitt und den „entscheidenden Augenblick“. Einfachheit des Ausdrucks, Sparsamkeit der Mittel Herausragend gelang ihm das bei dem berühmten Porträt von Jean-Paul Sartre 1946. Dieser steht auf einer Brücke und läßt den Blick pfeifeschmauchend seitwärts gleiten, von einem unscharf aufgenommenen Mann gering verdeckt, den der Bildrand anschneidet. Hinter dem Philosophen zielt das Brückengeländer auf eine ferne Kirchenkuppel, die die Vordergruppe ausponderiert wie der Heckpropeller einen Hubschrauber. Die beiden Männer, das Brückengeländer und die Kuppel ziehen eine Diagonale durch das Bild. Der umlaufende schwarze Rand bezeichnet das Negativende und beweist die Bildfindung während der Aufnahme, da keine Ausschnittvergrößerung vorgenommen wurde. Schließlich ist die Komposition ungewöhnlich, da die Figuren so in den unteren Bildrand gerückt sind. Das findet sich oft auf den Porträts von Cartier-Bresson. So erscheinen die Menschen in den Raum gestellt. Die ausgestellten Zeichnungen sind unbedeutend. Ihnen fehlt eine schärfere Kontur. Die einzelnen Bleistiftstriche sind gleichmäßig ohne entscheidende Trennung hingeworfen und streifen die Beliebigkeit. Cartier-Bresson hat schon gewußt, warum er nach seinem mißglückten Kunststudium zur Fotografie wechselte. Sein Ausspruch „Das Foto ist eine unmittelbare Handlung, die Zeichnung eine Meditation“ klärt auch sein Verhältnis zum Zeichnen, das für ihn eine Art Sehübung darstellt. In seinen späteren Jahren hat er sich ihr wieder zugewandt, hat aber leider auch die Kamera fortgelegt. Eine ganze Generation prädigitaler Fotografen ist durch ihn geprägt worden. Das Wesen seiner Bilder liegt in der Einfachheit des Ausdrucks und der Sparsamkeit der Mittel. Das erkennt man schon im Fehlen von Farbe. Diese Abstraktion führt ohne Ablenkung auf die eigentliche Bildaussage. Das Fehlende führt zu einem Gewinn. Alle Aufnahmen entstanden mit einer Leica-Sucherkamera, seinem „verlängerten Auge“, die durch ihr kaum hörbares Auslösegeräusch für dezentes Fotografieren wie geschaffen ist. Schnelles Zoomen ist mit ihr freilich nicht möglich, doch in der Regel genügte dem Fotografen die Standardbrennweite 50 mm, da diese der menschlichen Sehgewohnheit am nächsten kommt. Überdeutliche Nahsichten mit einem Teleobjektiv und weitwinkelhafte Verzerrungen finden sich bei ihm selten. Ansonsten ließ ihn die technische Seite kalt. „Für mich hat sich die Fotografie seit ihrem Ursprung nicht verändert, mit Ausnahme des technischen Aspektes, der nicht meine Hauptsorge ist. Fotografieren heißt, das Leben bejahen, mit allen seinen Widersprüchen. Der Beschluß, etwas im Bilde festzuhalten, kommt aus dem Innern, es schreit förmlich: ja, ja, ja!“ Bressons Bilder sind eine Welt für sich So kann man sagen, daß Cartier-Bressons Bilder einer vergangenen Welt angehören, da sie ihre Wirkung keinem plakativen Effekt schulden, der zur Deutlichkeit des Ausrufezeichens bedarf. Die Wirkung ruht in ihnen selbst, sie sind in sich verschlossen, eine Welt für sich. Die Zeit scheint oft darin aufgehoben oder angehalten, wie bei einem Film mit abgedrehtem Ton. In der Ausstellung ist das mit einem Satz von Louis-René des Forets kommentiert: „Alles, was sich nur durch Schweigen sagen läßt.“ Foto: Jean-Paul Sartre (Paris 1946), Vor der Berliner Mauer im Westen (1962): Die Zeit scheint oft aufgehoben oder angehalten / Henri Matisse (1944): Die Fotografierten inszenierten sich selber Die Ausstellung ist bis zum 15. August im Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, täglich außer dienstags von 10 bis 20 Uhr zu sehen. Der Eintritt kostet 6 Euro, ermäßigt 4 Euro. Das Begleitbuch zur Ausstellung „Wer sind Sie, Henri Cartier-Bresson? Das Lebenswerk in 602 Bildern“ ist im Schirmer/Mosel Verlag, München, erschienen und kostet broschiert 49,80 Euro, im Buchhandel 78 Euro.