Es wird Zeit, daß sich die öffentliche Debatte jenem Thema zuwendet, das für Deutschland und Europa zum Sprengsatz werden kann: dem möglichen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union. Anfang nächster Woche bricht die CDU-Vorsitzende Angela Merkel zu einer Reise nach Ankara auf, Bundeskanzler Gerhard Schröder wird dort acht Tage später erwartet. Mit Blick auf die Europa-Wahlen am 13. Juni rückt die Schicksalsfrage des türkischen EU-Beitrittsgesuchs nun ins Zentrum des politischen Interesses. Die Bundesregierung hat Ende 2002 – auch unter amerikanischem Druck – die folgenschwere Entscheidung getroffen, den Türken die Tür zur EU zu öffnen. Was zuvor undenkbar schien, ist nun in greifbare Nähe gerückt: Das Land am Bosporus setzt zum Riesensprung nach Europa an. Für die Türkei wäre ein EU-Beitritt ohne Zweifel der Aufbruch ins Paradies. Sie dürfte auf milliardenschwere Subventionen der EU hoffen und könnte ihren demographischen Überschuß nach Europa abladen. Doch welche Konsequenzen hätte es für Deutschland, wenn plötzlich ein wirtschaftlich schwaches und kulturell fremdes, islamisch geprägtes Land von bald über 80 Millionen Einwohnern mit am EU-Tisch säße? Soll sich Europa, das die jüngste Osterweiterung erst noch verdauen muß, den „riesigen Ballast eines muslimischen Großstaates“ (Hans-Ulrich Wehler) aufladen? Überdehnt sich die EU nicht, wenn sie ein Land aufnimmt, dessen Staatsgebiet zu 95 Prozent auf asiatischem Territorium liegt? Deutschlands Stimme wird den Ausschlag geben, wenn im Dezember 2004 in Brüssel die Regierungschefs über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei entscheiden. Die rot-grüne Bundesregierung, die ihre knappe Wiederwahl auch den Stimmen eingebürgerter Türken verdankt, hat bereits signalisiert, Ankara könne mit ihrer vollen Unterstützung rechnen. Die EU-Kommission wird bei der Prüfung der 1993 aufgestellten Kopenhagener Kriterien vermutlich großzügig verfahren. Eine Debatte über die Risiken und Kosten versuchen Fischer und Schröder zu unterdrücken. Das Thema im Wahlkampf anzurühren, sei populistisch und „scheinheilig“, erklärte Regierungssprecher Béla Anda beim letzten Besuch des türkischen Regierungschefs Recep Tayyip Erdogan in Berlin. Aber auch in der SPD ist der Kurs der Bundesregierung nicht unumstritten. So betrachtet nach Informationen der JUNGEN FREIHEIT der einflußreiche SPD-Politiker Hans-Ulrich Klose, stellvertretender Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, die Entwicklung mit Sorge. Zwar spräche außen- und sicherheitspolitisch viel für eine EU-Mitgliedschaft der Türkei, erklärt Klose. In einem Brief, der der JUNGEN FREIHEIT vorliegt, warnt der SPD-Außenpolitiker aber: „Aus nationalstaatlicher Sicht resultieren die größten Bedenken aus der mit der EU-Mitgliedschaft verbundenen Freizügigkeit, was zu einer weiteren Zuwanderung (in geschätzter Größenordnung von ca. fünf Millionen) nach Deutschland führen würde. Letzteres könnte – wie immer man den Tatbestand beurteilt – in der Tat dazu führen, daß sich die Mehrheit der deutschen Bevölkerung von der EU abwendet (fürchte ich)“, so Klose in dem brisanten Schreiben. Alle seriösen Umfragen zur Meinung der Deutschen über einen möglichen EU-Beitritt der Türkei zeigen eine breite Ablehnungsfront. Nach den demoskopischen Daten aus Allensbach sprachen sich im Januar 57 Prozent der Befragten gegen einen Beitritt der Türkei aus. Laut einer kürzlich von der CSU in Auftrag gegebenen repräsentativen Umfrage sollen gar 81 Prozent der Deutschen Gegner eines türkischen EU-Beitritts sein. Bemerkenswert ist auch die verbreitete Skepsis unter Führungskräften aus der Wirtschaft. So ergab die Allensbacher „Elite-Panel“-Erhebung für das Magazin Capital Ende Januar, daß 68 Prozent der befragten Top-Manager gegen, nur 28 Prozent für einen EU-Beitritt der Türkei sind. Diese überraschend deutliche Ablehnung dürfte auch den Spitzen der Unternehmerverbände, etwa dem BDI-Chef Michael Rogowski, zu denken geben. Keineswegs ergibt sich im Streit um das türkische Drängen nach Europa eine klare Spaltung in ein rechtes und ein linkes Lager. Der im rot-grünen Milieu wohlgelittene Publizist Ralph Giordano schrieb etwa: „Was mich empört, ist die Dreistigkeit der Täuschung, die der falschen Begründung für einen Beitritt zur EU zugrunde liegt. Die Türkei war nicht Europa, ist es nicht und wird es nicht sein, selbst dann nicht, wenn sie, wovon sie weit entfernt ist, die EU-Voraussetzungen erfüllen würde: Demokratie, Marktwirtschaft, Menschenrechte als Verfassungswirklichkeit.“ Einem türkischen EU-Beitritt stehen aus deutscher und europäischer Sicht fundamentale Gründe entgegen: Zum einen würde die Aufnahme eines muslimischen Großstaats mit Grenzen zu Syrien, zum Irak und zum Iran die Europäische Union geographisch überdehnen und überfordern. Die EU geriete in eine geopolitisch gefährliche Lage und würde in neue Konflikte hineingezogen. Auch sind die ökonomischen Eckdaten der Türkei katastrophal: So liegt die türkische Wirtschaftskraft pro Kopf nur bei knapp 22 Prozent des EU-Durchschnitts. Zudem ist das Land der größte Schuldner des Internationalen Währungsfonds (IWF). Mit einem EU-Beitritt wären daher Transferhilfen verbunden, die sich nach Schätzungen auf bis zu 40 Milliarden jährlich Euro beliefen. Deutschland als größter EU-Nettozahler müßte den Hauptbrocken dieser Kosten zahlen. Selbst wenn man die geostrategischen und finanziellen Belastungen für tragbar hielte, bleibt das demographische Problem. Heute leben in der Türkei über 70 Millionen Menschen, davon die Mehrheit in den rückständigen Gebieten Anatoliens. Bei der gegenwärtigen Geburtenrate von fast vier Kindern pro Frau läßt sich ein rasantes Bevölkerungswachstum berechnen: Schon 2015, wenn ein EU-Beitritt nach den Vorstellungen von Fischer und Schröder bevorstünde, wird die Türkei über 80 Millionen, im Jahr 2050 gar 100 Millionen Einwohner haben. Sie wäre dann mit Abstand der bevölkerungsreichste Staat der EU. Falls eine Zuwanderung von fünf Millionen Türken nach Deutschland stattfände, wie es der SPD-Politiker Klose für möglich hält, bedeutete dies eine Verdreifachung der Zahl der bereits hier lebenden Türken – mit all den damit verbundenen sozialen und kulturellen Konflikten. Noch ist es nicht zu spät, die fatale Weichenstellung von Rot-Grün zu korrigieren, wenn die Union die Gefahren im Wahlkampf klar anspricht. In einer Demokratie muß über eine Frage von solcher Tragweite in aller Härte öffentlich diskutiert werden können.