Unlängst stritten Helmut Schmidt und Bernhard Heisig über „objektiven Gehalt“ und „subjektive Spielräume“ in der Kunst. Ganz westlich lehnt Schmidt dabei alle Vorgaben ab und vertritt einen subjektiven Individualismus autonomer Kreativität. Dem hält Heisig apodiktisch entgegen: „Als Künstler ihr Ich zum Gegenstand ihrer Ausdruckswelt machten, war es mit der Kunst zu Ende. Sie hatte keinen Kanon mehr, keinen Zusammenhang für größere Dinge.“ Positiv kann dies als Minimaldefinition einer Idee vom „gesellschaftlichen Auftrag“ und „Realismus“ der Kunst gelten, ein Anspruch, der alles Kunstschaffen in der DDR durchzog, wogegen eine ortlose Subjektivität schnell ins Leere abdriftet. Von diesen Positionen aus entwickelten sich nach 1945 widerstreitende ästhetische Programme und Formen, die konkrete Gestalt fanden in den beiden künstlerischen „Leistungsschauen“ hüben und drüben: den großen Kunstausstellungen der DDR in Dresden (1946-88) und der international orientierten Documenta in Kassel (seit 1955). So entstanden getrennte Kunstlandschaften, diese im System des internationalen Kunstmarktes, jene eher national, auf den staatlichen Auftraggeber bezogen, wobei das Spektrum von Staatsnähe über skeptische Distanz, innere Emigration bis zu Dissidentenschicksalen reichte. Wurde für Westkunst die modische Innovation, das Karussell kurzlebiger Avantgarden prägend, so für die DDR-Künstler die produktive Auseinandersetzung mit der Tradition, zumal der klassischen Moderne. Von daher entwickelte sich im Osten ein Pluralismus unterschiedlicher Stile, Schulen, Genres, Mentalitäten, deren Einheitsgrund doch stets die Auseinandersetzung mit dem Menschen als Maß der Dinge blieb. Kunst war national, auf den Auftraggeber Staat bezogen Nach der Wende ging der „deutsche Bilderstreit“ in eine weitere Runde und führte zu regelrechten Boykotten. „Die Ostkünstler liefen in die offenen Messer ihrer Westkollegen und eines rücksichtslos-kommerziellen Kunstbetriebs, der plötzlich die politische Moral entdeckte und auf seinem Fortschrittsmonopol bestand. Die Kunstszene, (…) die in ihren eigenen Manövern und Vernetzungen höchst undurchsichtig und skrupellos operiert, insistierte plötzlich auf politisch-moralischer Korrektheit der Kunst.“ (Beaucamp) Die Querelen kulminierten im Streit um die Nationalgalerie 1993-95, als Dieter Honisch Werke aus der DDR der modernen Abteilung integrierte. Es kam zu massiven Eingriffen der Politik, der Ruf nach Zensur wurde laut. Die Entsorgungsversuche gipfelten schließlich in der makabren Weimarer Ausstellung „Aufstieg und Fall der Moderne“ 1999. Dort wurde DDR-Kunst pauschal mit NS-Ästhetik identifiziert, die öffentliche Hinrichtung als diffamierende Hängung polemisch inszeniert, was ungewollt die Herabgesetzten an die Seite der „entarteten“ Künstler von 1937 geführt und jene ebenso fatal wie wundersam rehabilitiert hat. Höchste Zeit also für die Berliner Nationalgalerie, mit einer breitgefächerten Retrospektive dieses künstlerische Erbe zu objektivieren und 13 Jahre nach der Wende einen umfassenden Blick auf die DDR zu wagen, jenseits des Weimarer Schauprozesses, aber auch der didaktischen Parteimalerei. Immerhin besitzt die Nationalgalerie selbst 387 Gemälde und 226 Skulpturen von 189 Künstlern aus der DDR. Ihre Initiative fügt nun zur „Kunst der BRD 1945-85“ (1985) den notwendigen 2. Teil. Die am 25. Juli eröffnete Ausstellung „Kunst in der DDR“, die am ersten Wochenende bereits über 10.000 Besucher zählte, nimmt diese Würdigung mit 400 Werken von 145 Künstlern in Angriff: Malerei, Plastik, Graphik, Collage und Fotografie. Nun haben die beiden Kustoden Eugen Blume und Roland März keine historische Dokumentation erstellt, vielmehr versucht, nach ästhetischen Kriterien das Bleibende zu sichten. Das ist ohne persönliche Perspektive und Akzentuierung nicht möglich, was im Vorfeld erneut Kontroversen provoziert hat. Allerdings strebt die Schau Entpolitisierung an und überspielt die Idiosynkrasien der Beteiligten. Die stilistische und formale Bandbreite ist denkbar groß, ausgeschlossen wurde nur der „phrasenhafte“ Bebilderungssozialismus einer kitschigen Massenkunst. Auf Werke, die laut März/Blume künstlerische Hauptströmungen der DDR signalisieren, trifft der Besucher gleich eingangs im riesigen Vestibül, Rohes geometrisch funktionalistischem Glaskubus. Fritz Cremers „Bleiche Mutter Deutschland“ (1965) und sein „Aufsteigender“ (1967) stehen paradigmatisch für introvertierten Antifaschismus und heroisches Freiheitsideal in der DDR. Erhabene Trauer und verhaltener Schmerz waren formtypisch für die Verarbeitung von Krieg und NS-Zeit; der „Aufsteigende“ allegorisiert die nationalen Freiheitsbewegungen des Jahrhunderts. Mittig schweben drei gewaltige Bildtafeln aus der Höhe herab: A. R. Penck, Werner Tübke und Hermann Glöckner. Penck mit seiner modernen „Höhlenmalerei“, den farbig durcheinanderwirbelnden Strichfiguren, Glöckners abstrakte Konstruktion des „achtfach reflektierten Strahls“ (1977) und Tübkes monumentale „Weihnachtsnacht 1524“, eine Übersetzung vom Bauernkriegspanorama zum Tafelbild. Die Ausstellung ist nicht strenger stilgeschichtlicher Systematik unterworfen, vielmehr locker gegliedert in 20 Sektionen, nach Stichworten wie „Utopie und Realität“, „Poesie des Alltags“, „Frontal Expressiv“, „Berliner Schule“, „Konstruktiv Konkret“ oder „Großstadt veristisch“. Sie beginnt mit der „Stunde Null“, reflektiert zunächst in der Grafik Hans Rudolphs die Zerstörung Dresdens und bettet im „Opfer des Faschismus“ (1946) von Hans Grundig die Toten auf Goldgrund. Diese Umdeutung des sakralen Stilmittels mittelalterlicher Ikonen weist auf einen typischen Impuls der DDR-Kunst: das Aufgreifen von Mustern und Bildmotiven der christlichen Ikonographie für die Gestaltung aktueller Themen. So fliegen jubilierende Engel durch die Bilder von Albert Ebert, Kreuzabnahmen, Apokalypsen und Höllenstürze sehen wir bei Werner Tübke, „Ecce Homo“ im „Sterbenden Krieger“ Gerhard Altenbourgs (1949); Bernhard Heisig malte 1986-88 seinen „Christus verweigert den Gehorsam“ als einen Gemarterten im Aufruhr, der sich die Dornenkrone von der Stirn reißt. Die rezeptive Phantasie der DDR-Künstler versetzt in Erstaunen. Überall zeigt sich, wie der Dialog mit den Klassikern kreative Fortentwicklung stimulierte. Willi Sitte verarbeitete in den fünfziger Jahren Picasso und Léger, später (1965-69) griff er in seinen Leuna-Bildern den Typ des Komplexbildes auf, das auf einer Simultanbühne räumlich und zeitlich disparate Geschehnisse szenisch synthetisiert. Gustav Seitz‘ an griechischer Archaik orientierte statuarisch-wuchtige Eva (1947) deutet Maillols Erbe um. Wolfgang Mattheuers Sisyphos-Bilder (1972) knüpfen an die surrealistische Phantasie Richard Oelzes und Dalís an, die Großstadtveristen an Grosz und Dix, die melancholische „Serviererin“ Manfred Böttchers (1957) an die verinnerlichte Menschendarstellung Hofers, und die Gaukler, Harlekine, Artisten Herbert Kitzels übersetzen dieses Thema aus Picassos blauer Periode in die moderne Situation: der fragile Mensch im sozialistischen Einheitsstaat. Dieser subtile Existentialismus klingt im Werk vieler Künstler an, so wenn Harald Metzkes schreibt: „Mit seinem Innern ist der Mensch letztlich allein und er wird es bleiben. In dieses Zentrum der unbekannten Ängste und Freuden zielt die Kunst, und sie allein kann bis dorthin dringen.“ Ein besonders interessantes Phänomen stellt der Cézannismus einiger Berliner Künstler dar. Dessen wichtigste Arbeit ist hier „Menschen am Strand“ von Hans Vent, 1976 entstanden für den Palast der Republik. Leibliche Grundhaltungen werden mit Licht durchdrungen, archetypische Figuren zu einem imaginären Raum gefügt. So entsteht eine humane Utopie: „… es stimmt schon, daß ich mich den Werten des menschlichen Lebens verpflichtet fühle. Mich interessieren einfache menschliche Situationen, Grundmuster menschlichen Verhaltens. Ich strebe immer die Harmonisierung an. (…) Das Ideal sozialistischer Weltanschauung ist ja letztlich die Harmonisierung aller menschlichen Beziehungen.“ Beharren auf figürlicher Darstellung und dem Thema Mensch ist ein Schlüssel zum Kunstverständnis in der DDR, über Jahrzehnte und divergierende Stilformen hinweg. Der fragile Mensch im sozialistischen Einheitsstaat Der eigentliche Kern des Bilderstreits im Kalten Krieg liegt wohl im Problem der Referentialität. Westliche Modernisierung hat die Künste nicht nur in „Autonomie“ und damit Zersplitterung geführt, sondern auch Künstler, Realität und Publikum einander entfremdet. Kunstausübung ist eine hermetische Angelegenheit geworden, leitende Ideen und kommunizierbare Inhalte so ziemlich verdampft. Aus einem symbolischen Ort allgemeiner Verständigung wird Kunst dann privat und selbstbezüglich. Ganz augenscheinlich waren die Musen im Osten dazu nicht bereit. Anders als in der Konsumgesellschaft, die Kunst dem Waren- und Freizeitsystem integriert und ihren Gehalt neutralisiert, fanden Künstler hier große Beachtung, und die Dresdener Kunstausstellungen waren dreimal so gut besucht wie die Kasseler Documenta. Die Besucher nahmen künstlerische „Aussagen“ ernst. Dieser „Konservatismus“ unterstellte tatsächlich einen objektiven Zusammenhang von Autor, Kunstwerk und Publikum mit substantiellen Inhalten, mithin die Realität als Einheit, ohne die „Kunst als Zeitspiegel“ undenkbar ist. Unglaubwürdig wurde indes die enge Parteitheorie von strikter Abbildlichkeit, wie sie Jürgen Schieferdeckers Triptychon „Das Lächeln der Mona Lisa“ (1977) hintersinnig parodiert. Die ideologische Matrix ironisieren auch Willy Wolffs Pop-Art-Werke, zumal seine sarkastische Hommage zu Lenins hundertstem Geburtstag (1970); die anarchische Suspendierung des traditionellen Werk- und des polizeilichen Zensurprinzips zeigt die Mail-Art der 1970er, die den Postverkehr zum experimentellen Ideentransport subversiv nutzte. In den siebziger und achtziger Jahren zogen die Dresdner Ausstellungen ein Millionenpublikum an und wurden zum prominenten gesellschaftskritischen Forum. Die gebotene „Weite und Vielfalt“ zeigte den Wandel der Honecker-Ära an. Dazu gehörte auch eine bemerkenswerte Verschiebung der Machtbalance zwischen Künstlern und Staat. Das sieht man besonders gut an der komplizierten Karriere Werner Tübkes, dem Haupt der Leipziger. Dessen einzigartiges Genie macht das Wort vom Leipziger „Wunder“ (Beaucamp) plausibel. Tübke, dem in Ost und West kein Vorwurf erspart blieb, fand doch allmähliche Anerkennung, obwohl sein exklusiver Manierismus und chiliastischer Spiritualismus, sublimer Intellekt und Kunstpathos den vordergründigen Bedürfnissen des Arbeiter- und Bauernstaates schwerlich entsprachen. Und doch stammen gerade von ihm die wichtigsten der von der DDR erstrebten neuen Bildformen für sozialistische Idee und deutsche Geschichte. Dresdener Ausstellungen viel populärer als die Documenta Während die naiven Abziehbilder des Agitprop vergessen sind, wird Tübkes Kolossalbild „Arbeiterklasse und Intelligenz“ (1973), der Entwurf einer humanen Utopie als monumentales Gruppenporträt, Bestand haben. In der Aneignung des Erbes ist Tübke mit der Kunstgeschichte, vor allem Renaissance und Manierismus, in einen geradezu mystischen Dialog getreten. In einzigartiger Weise hat er mit Stilmitteln der Tradition Fragen seines Jahrhunderts interpretiert und umgekehrt. So wurde er imaginärer Zeitgenosse Tizians, Dürers oder Pontornos. Niemand hat wie er die Zeit aufgehoben und den universellen Gehalt der klassischen Paradigmen künstlerisch erfüllt. Tübkes Abkehr von der Moderne mußte westliche Kritiker provozieren, die der Autonomiedoktrin zum Trotz teleologisch eisern an der „Irreversibilität der Moderne“ festhalten. Tübkes Richtgrößen waren dagegen „Natur, Gesellschaft, Tradition“. „Anachronistisch“ verwegen hat er der Kunst Aura und Glanz zurückgebracht, dem Menschen aber seine existenzielle Tiefe und kosmische Weite. Am Ende spricht der Vorwurf der Staatsnähe nicht gegen Tübke, sondern für die Auftraggeber, die sein Genie förderten. So übernahm er schließlich 1976 die Ausmalung des Bauernkriegsmonuments bei Frankenhausen, ein Jahrhundertwerk. Dem bösen Blick stellt sich das so dar: „Von den urbanen Dekorationsidyllen des Walter Womacka als staatstragender Kunst ging es auf der schwindelerregenden Höhe kulturpolitischen Größenwahnsinns zur manieristischen Staatsglorifikation des Werner Tübke. Je mehr das marode Staatssystem in sich zusammenfiel, um so größer klangen die Jubelfeiern.“ (Blume/März) In direktem Gegensatz dazu urteilt Eduard Beaucamp: „Er funktionierte das gewünschte Staatsmonument der DDR zum Kunstdenkmal um, das eine Summe seines universalistischen Lebenswerkes bietet. Die letzte tragische Schlacht des Bauernkrieges ist in ein turbulentes Panorama zwischen Spätmittelalter und Renaissance, und dies Welttheater wiederum in einen heilsgeschichtlichen Rahmen eingebettet.“ In einem höhnischen Artikel des Spiegel las man, die DDR-Künstler hätten gemalt, als seien Stile wie Expressionismus oder Neue Sachlichkeit noch nicht „erledigt“. Der Vorwurf legt den zynischen Gehalt einer entfesselt rastlosen Moderne bloß. Die Fortschrittsidee der permanenten Innovation ist tatsächlich eine „Erledigungsmaschine“ von menschlichen Erfahrungen, Werten, Ideen. Sie unterwirft uns bloßer Zeitlichkeit. Zumal westliche Besucher sollten die Ausstellung als kritischen Spiegel verstehen und bedenken, ob hier nicht zu lernen wäre vom Menschen als Maß der Dinge. Willi Sitte, „Arbeitspause“ (1959): Der Mensch als Maß der Dinge Werner Tübke, „Weihnachtsnacht 1524“ (1982): Rezeptive Phantasie Bernhard Heisig, „Beharrlichkeit des Vergessens“ (1977) Wolfgang Mattheuer, „Die Flucht des Sisyphos“ (1972) Die Ausstellung „Kunst in der DDR“ ist bis zum 26. Oktober in der Neuen Nationalgalerie in Berlin zu sehen. Der Katalog kostet in der Ausstellung 22 Euro. Info: 030 /2 66 26 51.
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