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Vollendungen

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Der Leser von Schillers Gedicht „Gruppe aus dem Tartarus“ könnte über eine merkwürdige Zeile stolpern, da die in unterster Unterwelt auf immer Verdammten einander ängstlich leise fragen, „ob noch nicht Vollendung sei?“ Schiller gebraucht 1782 das Wort im Sinne von Beendigung, von Vollendung der Qual, und auch Franz Schubert, dem genauen Leser seiner Texte, war 1817 diese Bedeutung noch geläufig, denn die Begleitfiguren seines Klaviersatzes leiten von der viermal dringlich wiederholten Frage hinüber zu dem Donnerwort: „Ewigkeit“, welche die Sense des Saturns entzweibricht, Zeit vernichtet und die Qualen in schlechte Unendlichkeit verlängert, wohin sich auch die Klavierbegleitung verflüchtigen will, bevor ein mild gebrochener Schlußakkord, obzwar in der saturnischen Tonart C-Moll, doch immerhin den Vorschein von Erlösung verheißen darf. Knapp einhundert Jahre später bricht Erlösung herein wie ein Geschenk, tönt über vollem Orchester das Wort „Ewigkeit“ ganz wie „Unsterblichkeit“ und erglänzt die Gruppe aus dem Tartarus in satten Ölfarben eines dick, allzudick, aufgetragenen Schauerbildes von sterblicher Hülle und unsterblicher Kunst, von Leiden des Schaffenden und Vollendung im Werk. Max Reger hat den Klavierpart des Liedes als verkappten Klavierauszug einer Orchesterpartitur gelesen und ihn auskomponiert. Lange Zeit wurde Schubert lediglich als Meister der „kleinen“ kammermusikalischen Form wahrgenommen, welche die große Form zwar in sich trage, diese jedoch nie recht aus sich entließe. Bis weit in das vorige Jahrhundert hinein sind Komponisten darangegangen, Schuberts Lieder zu orchestrieren, den verpuppten poetischen Ideen orchestrale Flügel zu verleihen und, nebenbei, die Lieder großen Konzertsälen kompatibel zu machen – ein künstlerisches Verfahren, das gar nicht so weitab ist von dem, was im Jargon der Kulturindustrie „Covern“ heißt. Die vielleicht schönsten dieser „Schubert-Lieder mit Orchester“ haben das Chamber Orchestra of Europa unter Claudio Abbado, die Sopranistin Anne Sofie von Otter und der Bariton Thomas Quasthoff letztes Jahr in Paris zur Wiederaufführung gebracht (Deutsche Grammophon 471 586-2). Die Interpretation ist hohen Ranges, und wer ihre Wege mitgeht, der lernt an den großen wie den kleinen Abweichungen und Verschiebungen im Umgang mit den originalen Liedern den Wandel des Schubertbildes durch die Zeiten wahrzunehmen, und er lernt die Originale selbst wieder neu und rein zu hören. Ein Weg führt von Schuberts eigener Orchestrierung der Romanze aus „Rosamunde“ über Brahmsschen Volksliedton hin zu Brittens leicht ironischer Begegnung mit der betrogenen „Forelle“, ein anderer Weg über Berliozsche Ausdramatisierung hin zu den Katastrophensituationen in wilhelminischem Interieur, von Max Reger nachgestellt. Was Schuberts Vertonung des „Erlkönig“ beunruhigend grundiert, das bringen Berlioz und Reger zur Explosion: aus dem Spiel mit erotischen Tabus werden nahezu psychoanalytische Fallstudien sexueller Nötigung und väterlichen Versagens. Wären Goethe, den ja bereits Schuberts Vertonung seiner Ballade überforderte, die Fassungen von Berlioz und Reger zu Ohren gekommen, diese von Quasthoff, jene von Anne Sofie von Otter gesungen, er hätte sein Gedicht wohl in die geheimste Schublade verbannt. Von allen eingespielten Arrangements aber kommen jene vier den Schubertschen Ausdruckscharakteren am nächsten, die ein zwanzigjähriger Kompositionsschüler 1903 vorgelegt hat, lange bevor er zu einem der wirkungsmächtigsten Komponisten des Jahrhunderts werden sollte. Sein Name ist Anton Webern.

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