Eine oft zu hörende Klage lautet, zwölf Jahre nach dem Ende der DDR interessiere sich kaum noch jemand für die zweite Diktatur in Deutschland des 20. Jahrhunderts. Dagegen spricht unter anderem die ungebrochene Flut von einschlägigen Publikationen, die auch der Fachmann kaum noch zu überschauen vermag. Am Mittwoch voriger Woche luden die Stiftung Aufarbeitung und die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR anläßlich des Jahrestages der Besetzung der MfS-Zentrale in der Berliner Normannenstraße durch Bürgerrechtler zu einer Aufführung des Dokumentarfilms „Das Ministerium für Staatssicherheit – Alltag einer Behörde“. Etwa 500 Interessierte, darunter viele junge Menschen, sahen den Film im Ufa-Kino am Alexanderplatz; der Andrang war so groß, daß viele Besucher aus Platzmangel keinen Zutritt fanden und auf eine Wiederholung vertröstet werden mußten. Die nächste Aufführung soll am 10. Februar stattfinden. Im Mittelpunkt des Films stehen umfangreiche Interviews mit hohen Stasi-Offizieren, die ausführlich ihre Sichtweise der Dinge vortragen dürfen, was in der anschließenden Diskussion von Opfern des Staatssicherheitsdienstes verständlicherweise gerügt wurde. In der Tat – der Film schildert nur gelegentlich den „Alltag“ des MfS und auch nicht die Folgen seines oft verbrecherischen Tuns für die Opfer. Wen bisher gar keine Informationen über das „Schild und Schwert“ der SED erreicht haben, der wird mit den selbstgefälligen und rechthaberischen Aussagen der Stasi-Generäle, darunter zwei Stellvertreter Mielkes, Generalleutnant Wolfgang Schwanitz (Jahrgang 1930) und Generalmajor Gerhard Neiber (Jahrgang 1929), wenig anfangen können. Als Einstieg in die Problematik etwa in der politischen Bildung ist der Film kaum geeignet. Wer aber die Mentalität, die Psyche, die Voraussetzungen des Aufstiegs und die intellektuellen Fähigkeiten der Führung des MfS kennenlernen will, der wird hier durchaus fündig. Die meisten der sechs Generäle und drei Obristen stammen aus der Arbeiterschaft, nur Schwanitz‘ Eltern waren Bankangestellte. Alle haben das, was sie erreicht haben, ausschließlich ihrer Partei und ihrem „Organ“ zu verdanken. Für sie ist diesem gegenüber kritiklose Dankbarkeit selbstverständlich. Beeindruckend der Stolz, mit dem der Rektor der Juristischen Hochschule des MfS in Potsdam, Willi Opitz (Jahrgang 1928), darauf hinweist, er hätte sich als 20jähriger Arbeiterjunge bei seiner Einstellung in die Volkspolizei nicht im Traum vorstellen können, er werde es einmal zum General und Professor mit doppelter Promotion (an dieser Hochschule der „Tschekistik“) bringen. Nicht untypisch auch die Larmoyanz, mit der er erwähnt, er habe sich nach seiner Entlassung 1990 mit Zettelaustragen noch etwas zur Rente hinzuverdienen müssen. Leider hat ihn niemand gefragt, wie denn im Falle eines Zusammenbruchs der Bundesrepublik die DDR mit den Führungskräften des „Klassenfeindes“ umgegangen wäre. Hätten sie auch eine Chance gehabt, vor Gericht erfolgreich für eine höhere Rente zu streiten und sich im Fernsehen als verfolgte Unschuld darzustellen? Eine Antwort erübrigt sich wohl. Eine kritische oder gar selbstkritische Reflexion ihres beruflichen Tuns ist allen Interviewpartnern unmöglich. Sie leugnen ihre menschenrechtswidrigen Taten nur selten, versuchen allenfalls die Folgen etwas herunterzuspielen. Sie kämpften ja auf der richtigen Seite, ihnen war alles erlaubt! Davon sind sie noch heute überzeugt. Wer sich für die psychischen Befindlichkeiten von Polittätern interessiert, dem kann dieser Film uneingeschränkt empfohlen werden. Allerdings sollte der unzutreffende Bezug auf den „Alltag einer Behörde“ aus dem Titel genommen werden. Beisetzung von Erich Mielke auf dem Friedhof Friedrichsfelde in Berlin (6. Juni 2000): Unter den etwa 150 Trauergästen, die den am 21. Mai 2000 im Alter von 92 Jahren verstorbenen einstigen Chef des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR auf seinem letzten Weg begleiteten, gehörten neben Ehefrau Gertrud, Sohn Frank und Schwiegertochter Marion vor allem alte Genossen, darunter seine beiden Stellvertreter Gerhard Neiber und Wolfgang Schwanitz. Von einer selbstkritischen Reflexion ihres Wirkens sind beide Stasi-Generäle bis heute weit entfernt. Statt dessen dürfen sich Schwanitz und Neiber jetzt in einem Film der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und der Stiftung Aufarbeitung mit selbstgefälligen und rechthaberischen Aussagen präsentieren. „Das Ministerium für Staatssicherheit – Alltag einer Behörde“. Ein Film von Christian Klemke und Jan Lorenzen. Produktion: e-Motion Picture Baden-Baden/Ludwigsburg. Koproduktion: MDR/Arte, 2002, 90 Minuten. Detlef Kühn war von 1972 bis 1990 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts in Bonn.