In England streiten sich zur Zeit die Archäologen, ob die berühmte Anlage von Stonehenge bei Salisbury ein Sonnenheiligtum oder ein Mondheiligtum gewesen sei. Noch vor kurzem galt der monumentale Steinkreis fast einhellig als der Sonne geweiht, aber neuerdings machen die Mondforscher Punkte gut.
Natürlich gibt es nach wie vor jenes "Fenster", durch das die Sonne ihre goldenen Strahlen exakt zur Stunde der Sommer- bzw. Wintersonnenwende in grellster Fokussierung hindurchgehen läßt, den davor stehenden Priester mit überirdischem Glanz umgebend und die respektvoll und genau Abstand haltende Gemeinde der Gläubigen tief beeindruckend. Doch auch ein "Mondfenster" ist jetzt lokalisiert, vor dem davorstehende Priester zu einem bestimmten Zeitpunkt ebenfalls in ein Lichtkleid eingehüllt wurden, in ein silbernes Mondkleid diesmal. Gold oder Silber, Sonne oder Mond – das ist nun in Stonehenge die Frage.
Es geht dabei, wenn Pankraz richtig zugehört hat, auch um einen angeblichen Religionskrieg zwischen traditionellen Großwildjägern auf der einen Seite, modernen Ackerbauern und Viehzüchtern auf der anderen. Die eine Forscherfraktion sagt: Stonehenge ist von Großwildjägern aufgerichtet worden, die nachts auf die Pirsch gingen und dazu das Licht des Mondes brauchten. Die andere Fraktion sagt: Stonehenge ward von Ackerbauern erbaut, die die wärmende Sonne zum Gedeihen ihrer Saaten benötigten, für die das solstitium, die Sonnenwende, ein überlebenswichtiges Datum war, das sie mit dem Riesenbau feiern wollten.
Aber handelt es sich bei der ganzen Debatte nicht um einen Streit um des Priesters Bart? Keine der Fraktionen hat auch nur den geringsten Beweis auf ihrer Seite. Übrig bleibt für den Stonehenge-Besucher immer nur das Staunen darüber, daß vor viertausend Jahren irgendwelche armseligen, voll mit ihrer Lebensfristung beschäftigten Jäger bzw. Bauern den Willen und die Fähigkeit aufbrachten, solch eine gigantische Anlage hinzustellen, solch eine wohlgeordnete Ansammlung riesiger Hinkelsteine, zu deren bloßer Bewegung allein doch schon übermenschliche, im Grunde maschinelle Kräfte notwendig waren und dazu ein logistisches Genie, wie es normalerweise höchstens alle hundert Jahre einmal in Erscheinung tritt.
Die Stonehenge-Erbauer der späten Jungsteinzeit waren nach allem, was wir wissen, keine Sklaven, wie sie zur selben Zeit den ägyptischen Pharaonen zur Errichtung ihrer Pyramiden zur Verfügung standen. Sie handelten aus freiem Willen und nach sorgfältiger Abwägung im Rat der Stammesältesten. Was trieb sie an? Ihre Schöpfung war kein Grabmal, sollte kein Weiterleben gewaltiger Fürsten nach deren Tod garantieren. Stonehenge war ein ideelles Gemeinschaftswerk reinsten Wassers, und ein superintellektuelles dazu. Man denke: All der Aufwand diente offenbar einzig dazu, ein- oder zweimal im Jahr ein optisch-astronomisches Ereignis optimal aufblitzen zu lassen, eine Sache, die ganz schnell wieder verging und die überhaupt erst nach sorgfältigster Beobachtung und Berechnung zu inszenieren war. Was für ein kollektives, geistbeflügeltes Zusammengehen war hier nötig! Was für eine Feinheit und Disziplin der inneren Instinkte!
Oder hat vielleicht doch Erich von Däniken recht, und es handelt sich bei Stonehenge nicht um ein Gerät zur Sichtbarmachung von Sonnen- und Mondwenden, sondern tatsächlich um einen Landeplatz für ein übermenschlich-göttliches Raumschiff mit allen möglichen handfesten, direkt materiellen Folgen für die, die die reichen Weltraumgötter derart empfingen? Nach den heute dominierenden Auffassungen über den Egoismus und Materialismus der menschlichen Natur klingen die Erklärungen Dänikens realistischer.
Glücklicherweise gibt es für sie noch weniger Beweise als für die Theorien der aktuellen britischen Stonehenge-Archäologen. Wir können uns also in der Genugtuung wiegen, daß das ganze nördliche und mittlere Europa der späten Jungsteinzeit, frühen Bronzezeit eine spirituelle Hochzone war, wo nicht bärbeißige Kriegshäuptlinge den Ton angaben, sondern gelehrte Mond- und Sonnenpriester, die gleichzeitig sorgfältige Astronomen waren und deren Beziehungen über Tausende von Meilen hinweg bis zu den astronomischen Kollegen in Babylon und Indien reichten.
Viele Funde der letzten Zeit, die "Sonnenscheibe von Nebra" etwa, der merkwürdig hohe "Goldene Hut von Schifferstadt" und ähnliche (Priester-)Hüte, die zahllosen astronomischen Symbole auf den Bronzemessern der Zeit, weisen in diese Richtung. Und es gehört wenig Phantasie dazu, sich vorzustellen, daß der Anbruch der Bronzezeit als solcher, der Übergang von der Steinmetzelei zum Schmiedehandwerk, die wissenschaftlich-astronomische Orientierung ungemein befördert und inspiriert hat.
Oben wie unten, am Himmel wie in der Erde, aus der man Gold und Silber, Kupfer und Zinn förderte, blitzte und funkelte es. Es bestand ein geheimnisvoller, dennoch offen zutage liegender Zusammenhang zwischen dem Lauf der Gestirne, ihrem Aufgang und Untergang, und dem Erglühen und Wiederstumpfwerden der geschmolzenen Edelmetalle, aus denen man nicht nur Waffen und Gerätschaften fertigte, sondern auch und nicht zuletzt Schmuck und Gewänder, Priestergewänder. Wenn nun Sonne und Mond zur Stunde ihrer Wende ihren gebündelten Lichterglanz durch die "Fenster" von Stonehenge schickten, ließ dieser sich auf die in Gold und Silber gewandeten Priester nieder und verwandelte sie selber in Gestirne. Es war ein gutes Zeichen, mit dem Jäger wie Bauern gleichermaßen zufrieden sein konnten.
Pankraz ist überzeugt davon, daß Stonehenge die Menschen nie und nimmer entzweien, sie in Jäger und Bauern aufteilen und in Zwist und Hader stürzen sollte. Es war vielmehr ein Werk gemeinsamer Freude. Das paßt gut in diese besinnlichen Vorweihnachtstage.