Am 19. Juni 1960 gab der SPD-Parteivorstand in Bonn den Abbruch aller Beziehungen zum Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) bekannt. In der knappen Erklärung hieß es wörtlich: „1. Jede Förderung des SDS wird ab sofort eingestellt. 2. Die Beziehungen der SPD zum SDS werden abgebrochen. 3. Die Partei wird aufgefordert, den SHB (Sozialdemokratischer Hochschulbund, d.V.) in seiner Arbeit zu fördern.“ Zwar kritisierten einige prominente Hochschullehrer in einer Reihe von Solidaritätsadressen, unter ihnen der Basler Theologe Karl Barth und der Marburger Politologe Wolfgang Abendroth, diese Entscheidung der SPD-Führung, aber es dauerte fast ein Jahr, bis es dem SDS in schwierigen internen Debatten gelang, sein politisches Selbstverständnis als sozialistische Studentenorganisation in der Bundesrepublik neu zu definieren. Bislang galt Wolfgang Kraushaars 1998 erschienene dreibändige Chronik und Dokumentation „Frankfurter Schule und Studentenbewegung“ als wichtigste Darlegung des Theoriehintergrundes der politischen Geschehnisse vor und nach 1968. Deren Historisierung illustrierte jedoch gleichzeitig die Problematik distanzierender Beobachtungen. Man sah die Zeitreise in die sechziger Jahre zum legendären SDS immer noch allzu nostalgisch anstatt kritisch. Mit diesem System gemütlicher Erinnerungen auf der postrevolutionären Couch macht der vorliegende erste Band „Die antiautoritäre Revolte. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund nach der Trennung von der SPD. 1960 – 1967“ radikal Schluß. Siegward Lönnendonker, Leiter des Archivs „APO und soziale Bewegungen“ an der FU Berlin, Bernd Rabehl und Jochen Staadt, Projektleiter des Forschungsverbunds „SED-Staat“ an der FU, nähern sich der Geschichte des Studenten- und Jugendprotestes, der „am Ende der sechziger Jahre kulminierte und sofort danach auseinanderbrach“ – wie es im Vorwort heißt -, rekapitulierend und versuchen so jenen historischen Zugang zu den damaligen Geschehnissen zu vermitteln, den man bislang bei den meisten Arbeiten zu diesem Thema vermißte. Trotz ihrer biographischen Involviertheit – vor allem Rabehl war einer der führenden Protagonisten des SDS -, bewahren sie eine löbliche Distanz zu den Ereignissen. Das ist heute selbst bei streng wissenschaftlichen Arbeiten keineswegs mehr selbstverständlich. Die für die gesamte Hochschulrevolte grundlegende Denkschrift „Hochschule in der Demokratie“ erschien im Oktober 1961 als Sondernummer der Verbandszeitschrift Neue Kritik zur XVI. ordentlichen Delegiertenkonferenz des SDS in Frankfurt. Die fast gleichzeitige Gründung der „Sozialistischen Förderergesellschaft der Freunde, Förderer und ehemaligen Mitglieder des SDS“, die sich ein Jahr später in „Sozialistischer Bund“ umbenannte, stellte den SDS vor eine wichtige Entscheidung. Jürgen Habermas, Mitglied der Förderergesellschaft, entwarf vor den Delegierten die Alternative, „intellektuelle Kader für eine neue Partei (zu) werden oder den Versuch einer action directe (zu) unternehmen und in die berufsrevolutionäre Untergrundarbeit (zu) gehen.“ Ein paar Jahre später zogen Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl auf der XXII.Ordentlichen Delegiertenkonferenz in ihrem Organisationsreferat strategische Schlußfolgerungen für den politischen Kampf in einer seit der Bildung der Großen Koalition in Bonn völlig veränderten innenpolitischen Situation. Analog zum Guerillakrieg in den unterentwickelten Ländern empfahl Dutschke den Guerillakrieg auch in die Städte zu tragen. Seine entscheidende Aufforderung lautete: „‚Die Propaganda der Schüsse‘ (Che) in der Dritten Welt muß durch die ‚Propaganda der Tat‘ in den Metropolen vervollständigt werden, welche eine Urbanisierung ruraler Guerilla-Tätigkeit geschichtlich möglich mache. Der städtische Guerillero sei der Organisator schlechthinniger Irregularität des Systems der repressiven Institutionen.“ Das Referat wurde durchaus kritisch aufgenommen. Während ein Teil der Delegierten mit frenetischem Applaus reagierte, lehnten andere es strikt ab. Der zur traditionalistischen KP-Fraktion zählende Bonner Delegierte Hannes Heer nahm den Habermasschen Vorwurf auf und beschimpfte Dutschke als „Linksfaschisten“. Wenig später forderten die Traditionalisten sogar seinen Ausschluß aus dem SDS. Zwar war es Dutschke nicht gelungen, den SDS zu spalten, um aus den revolutionären Fraktionen des Verbandes und der APO eine neue Organsation zu gründen, deren Militanz nicht durch KP-Traditionalisten und linke Legalisten sabotiert werden konnte, aber die Zeichen standen nun deutlich auf Frontbildung, kämpferischen Inszenierungen und einer neuen revolutionären Praxis. Mit der Wahl der zur antiautoritären Fraktion gehörenden Brüder Karl Dietrich und Frank Wolff zu neuen SDS-Bundesvorsitzenden war diese Richtungsänderung zu mehr Militanz auch organisationspolitisch in jeder Hinsicht gegeben. Dies zeigte sich bereits bei der Störung der Vorlesung von Carlo Schmid über „Theorie und Praxis der Außenpolitik“ im November 1967 im Hörsaal VI der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität. Schmid wurde von den Störern ultimativ aufgefordert, seine Vorlesung zu unterbrechen und mit den SDS-Mitgliedern über die Notstandsgesetzgebung zu diskutieren. Wolffs Versuch, ihm das Standmikrophon wegzuziehen, um selbst eine Ansprache zu halten, wurde von Schmid jedoch reaktionsschnell verhindert. Obwohl die Mehrheit der Zuhörer mit Gegensprechchören wie „SDS raus, Rotfront raus“ reagierte, setzte dieser seine Störungen bis zum Ende der Vorlesung fort. Dennoch gelang es nicht, Schmid vom Podium zu vertreiben, der mit den Worten „Die Autorität weicht nicht zurück!“ seine Vorlesung fortsetzte. Der Vietnam-Kongreß im Februar 1968 in Berlin symbolisierte mit seinen revolutionären Parolen und seiner fahnenschwenkenden Festtagsstimmung noch einmal alle Ideale und Utopien einer rebellischen Generation. Wenige Jahre später wurde sie zwischen autoritären Kaderparteien, die die Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts mit den sozialen und politischen Kategorien des neunzehnten erfassen und verändern wollten, der bußfertigen Rückkehr in den alles verzeihenden Mutterschoß der Sozialdemokratie und dem Wahnsinn terroristischen Dunkelmännertums gnadenlos zerrieben. Siegwart Lönnendonker, Bernd Rabehl, Jochen Staadt: Die Antiautoritäre Revolte. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund. Band 1: 1960 bis 1967. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2002, gebunden, 529 Seiten, 39,90 Euro