Dylan Thomas‘ Gedichte zieren die Poesiealben empfindsamer Gymnasiastinnen, sie erklingen als Wiegenlieder, wenn Eltern auch sich selber trösten wollen. Ähnlich zierlich mag man sich ihren Verfasser vorstellen – ein schmächtiger, schwächlicher Jüngling, ein walisisches Feenwesen, viel zu zart für die häßliche Zeit, in der er leben mußte. So malte ihn auch sein gelegentlicher Freund und zeitweiliger Nebenbuhler Augustus John – das „Cherub-Bildnis“, nannte der Dichter es später verschämt-verächtlich. In weniger schwärmerischen Tönen beschrieb ihn der amerikanische Schriftsteller Truman Capote, selbst kein Kind von Traurigkeit, als „Riesenbaby, das alles, aber auch alles kaputtmacht, was ihm in die Finger gerät, sich selbst eingeschlossen“. Laut denen, die ihn gekannt haben, war er ein wüster, wenn auch charmanter Trinker, um den empfindsame Gymnasiastinnen und junge Eltern wohl einen weiten Bogen geschlagen hätten. Seine Witwe Caitlin erzählte Thomas‘ Biografen Paul Ferris noch vierzig Jahre danach, welch „enorme Befreiung“ sein Tod gewesen sei, die Tochter hat „schmerzhafte“ Erinnerungen an das Familienleben. Hätte er sich nur am Alkohol und nicht auch an Worten berauscht, dann wäre ihrem Ärger nichts hinzuzufügen – noch würde er die Nachwelt interessieren. Mit seinem bardischen Englisch (Walisisch konnte er nicht), seiner fast bis zum Kitsch verklärten Bildwelt, seiner klangvollen Vorlesestimme und seinem ruinösen Lebenswandel war Thomas ein zu später Romantiker oder aber ein zu früher Beatnik. Von seinen Zeitgenossen, den kaltblütigen Modernisten, hat er jedenfalls wenig gelernt – am meisten verband ihn wohl mit dem Iren William Butler Yeats in dessen keltisch-mystischer Phase. Sein Werk ist von einer tiefen Religiosität durchdrungen, die mit Kirche und Frömmelei nichts zu tun hat, um so mehr mit Ehrfurcht vor dem Wunderbaren oder Wunderlichen an der Schöpfung. „Death shall have no dominion“, schwor er schon 1933, als die Herrschaft des Todes weiß Gott keine schaurig-schöne Metapher war. Die Seele erzählt dem Herzen ein Märchen Zu sagen, Thomas‘ Werk trauere einer verlorenen, einer tatsächlich nie erlebten Unschuld nach, ist ein Klischee, aber ein geradezu unvermeidliches. Denn welche Lyrik tut das nicht? Welche Lyrik jedoch tut es mit derselben Glut, derselben Dringlichkeit? In „Fern Hill“ (1946) besingt Thomas mit aller Macht und Magie der Sprache den Hof seiner Tante. Als wäre die Kindheit ein Märchen, das die wunde Seele dem wehen Herzen zuraunt, krönt er sich selbst zum „prince of the apple towns“, zum Gebieter über das Idyll. Sein Hörspiel „Under Milkwood“ („Unter dem Milchwald“) handelt von Alltag und Traumleben in Llareggub, was bodenständig klingt und nur die Umkehrung einer Lieblingsderbheit ist – bei der Erstveröffentlichung 1954 wurde die Kleinstadt prüde in „Llareggyb“ umgetauft. Dabei herrscht unter den Bigamisten, Pädophilen, Nekrophilen, Nymphomanen, Satanisten und Kannibalen des beschaulichen „Bugger all“ ein durchaus gehobener, ja poetischer Umgangston. Selbst der Tuchhändler ist „verrückt vor Liebe“, die er in die farbenfrohsten Stoffe kleidet. Dafür verspricht die Angebetete, sie wolle sein „Herz am Feuer wärmen, damit du es unter dein Hemd stecken kannst, wenn der Laden zu hat“. An seinem Totenbett wachte der amerikanische Dichter John Berryman (1914-1972), der später eine Art Karriere daraus machte, als „zweiter Dylan Thomas“ zu gelten. Ein anderer großer Poet leugnet den Einfluß des Walisers seit Jahrzehnten: 1961 kam der junge Musiker Robert Zimmerman von Minnesota nach New York, schüttelte den Staub der Provinz ab und schickte sich an, unter dem Künstlernamen Bob Dylan weltberühmt zu werden. Daß er sich nach einem Onkel Dillon benannt haben will, mochte ihm noch nie ein Journalist glauben. Um so unvergessener bleibt das Original. In Thomas‘ Heimatstadt Swansea, die sein Andenken als touristischen Standortvorteil pflegt, sind die Feierlichkeiten zum 50. Todestag derzeit in vollem, wenn auch recht gediegenem Gang. Seit seinem Geburtstag, dem 27. Oktober, findet dort ein Dylan-Thomas-Festival mit Lesungen, Filmvorführungen, Ausstellungen, Marionetten- und anderem Theater, Konzerten, Vorträgen und Gesprächsrunden statt. Dylan Marlais Thomas wurde 1914 sozusagen in den Ersten Weltkrieg hineingeboren. Sein Asthma sollte ihm die Teilnahme am Zweiten ersparen. Als Kind nutzte er den Charme seiner blonden Engelslocken und seine anfällige Lunge, um nicht zur Schule gehen zu müssen. Lieber las er sich durch die Bibliothek des Vaters, eines Englischlehrers, der seinem Sohn doch einen Namen aus der keltischen Literatur gegeben hatte: Dylan („Meer“) heißt eine Figur in der mittelalterlichen kymrischen Sagensammlung „Mabinogion“. Mit sechzehn gab Thomas seine akademische Laufbahn endgültig auf. Da Dichtern schon damals keine rosigen Berufsaussichten blühten, jobbte er als Lektor und Lokalreporter bei der South Wales Daily Post. Nach ersten Publikationserfolgen ließ er sich 1934 im Londoner Bohemeviertel Chelsea nieder. So sehr gefiel ihm die Pose des Provinzlers von Welt, des jungfräulichen Lebemanns und sensiblen Zynikers, daß er schließlich zur Erholung von seinen Exzessen in die Einsamkeit des nordirischen Donegal fliehen mußte. Sogar am neuesten künstlerischen Schrei aus Europa versuchte Thomas sich, dem Surrealismus, der sich in seinen Texten als irritierende Wirrnis niederschlägt. Wie gut er tatsächlich schreiben konnte, zeigt aber spätestens die verschmitzte, verspielte Prosa seines „Portrait of the Artist as a Young Dog“ („Porträt des Künstlers als junger Hund“, 1940). Er gefiel sich in der Pose des Provinzlers von Welt Caitlin Macnamara war Tänzerin, eine atemberaubende Schönheit und die Geliebte des 35 Jahre älteren Augustus John, als Thomas seine zukünftige Frau im April 1936 kennenlernte. Von chronischer Geldnot, heillosem Alkoholüberfluß und beiderseitigen Ehebrüchen geplagt, zog das Paar von seinem Elternhaus zu ihrem, aus Behelfsquartieren in London oder bei Freunden auf dem Land zurück an die Küste, bis Margaret Taylor, die Frau des Oxford-Professors Alan Taylor, ihnen 1949 ein Häuschen auf den Klippen des walisischen Fischerdorfs Laugharne kaufte. Im selben Jahr gebar Caitlin nach Llewelyn (1939) und Aeronwy (1943) ihr drittes Kind Colm. Während der Kriegsjahre half Thomas als Drehbuchautor und Erzählstimme für die Produktionsfirma Strand Films, das Volk bei Laune zu halten. Die Mitarbeit an Dokumentar- und Propagandastreifen über die Entdeckung des Penizillins, den sicheren Untergang der Nazis oder die Berge von Wales lehrte ihn, Ideen nüchterner zu Papier zu bringen – das Publikum wiederum lernte seinen trunkenen Einfallsreichtum schätzen. Später schrieb er auch Radioskripte für die BBC und bestritt ganze Sendungen mit Gedichten und Geschichten, von denen glücklicherweise Tonbandaufnahmen erhalten sind. Die Hoffnung, seine finanziellen Sorgen durch regelmäßige Lohnarbeit zu kurieren, scheiterte allerdings an den Forderungen der Steuerbehörde, der 1948 auffiel, daß er zeitlebens noch keinen Penny gezahlt hatte. Auch Thomas‘ Spielfilmprojekte blieben ungedreht. Dafür flog er im März 1949 auf Einladung des Tschechischen Schriftstellerverbandes nach Prag, unternahm im Folgejahr seine erste amerikanische Lesereise und verbrachte Anfang 1951 einige Wochen im Iran, um an einem Dokumentarfilm im Auftrag der Anglo-Iranian Oil Company zu arbeiten. Der wohl bekannteste Vers, den Thomas je gedichtet hat – nämlich 1951 für den todkranken Vater -, ist ergreifend lyrisch und abstoßend pathetisch: „Do not go gently into that good night. / Rage, rage against the dying of the light“. Tag für Tag, Abend für Abend, Zeile für Zeile dauert der Kampf gegen das Sterben des Lichts ein ganzes Leben lang. Dylan Thomas verlor ihn am 9. November 1953 während eines langen Aufenthalts in den USA, wo er vor begeisterten Zuhörern „Under Milkwood“ an der Harvard-Universität uraufführte und neben eigenen Stücken auch Gedichte von Yeats, Thomas Hardy, D. H. Lawrence, Edith Sitwell oder W. H. Auden vortrug. Nach einem Zechgelage in New York und einer von einem übereifrigen Arzt als Beruhigungsmittel verabreichten Dosis Morphinsulfat fiel er am 4. November ins Koma. „Gently“, sachte, ist er sicherlich nicht in die Nacht gegangen. silke lührmann Foto: Dylan, Colm und Caitlin Thomas (um 1950): Von chronischer Geldnot und heillosem Alkoholüberfluß geplagt