In seiner Erstlingsschrift „Die Mystik, die Künstler und das Leben“ (1900) stand Rudolf Kassner noch ganz im Banne des neuromantischen Ästhetizismus und Friedrich Nietzsches. Später entdeckte er die Tiefe des altindischen Schrifttums, vor allem aber die Religiosität Sören Kierkegaards, dessen Innerlichkeit und Idee einer Erlösung der Welt durch Gott ihn faszinierte. Schon in Kassners frühen Schriften, worunter „Die Elemente der menschlichen Größe“ besonders hervorzuheben ist, ging es um ein deutendes Zusammenschauen der Völker, Stände und Einzelmenschen, der Mythen, Religionen und Philosophien, der Kunst, Geschichte und Wissenschaft, die er in Raum und Zeit zu verorten versuchte. Rudolf Kassner wurde am 11. September 1873 als Sohn eines deutschstämmigen Guts- und Fabrikbesitzers in Großpawlowitz in Südmähren geboren. Durch eine Kinderlähmung schwer behindert, unternahm er dennoch weite Reisen und unterhielt weitverzweigte Beziehungen zur geistigen Elite Europas. So war er unter anderem eng mit Rainer Maria Rilke befreundet, obwohl er dessen unversöhnliche Anti-Christlichkeit nicht teilte. Er übersetzte Platon, Gogol, Tolstoj, Dostojewski und Gide und beeinflußte seinerseits zeitgenössische Dichter wie Hofmannsthal, Wilde und Valery. Kassners zwischen Philosophie und Dichtung schwebende mystische Visionen schlugen sich in Essays, Dialogen, Erzählungen, kulturgeschichtlichen Betrachtungen und umfangreichen Traktaten nieder. Der Vorwurf undruchdringlicher Dunkelheit trifft jedoch nur auf die Traktate zu, von denen „Zahl und Gesicht“ (1919) der wichtigste ist. Die Schwierigkeit seiner Schriften ergibt sich aus der oft rätselvollen Terminologie und den gewaltigen Gedankensprüngen. Seine drei Erinnerungsbücher „Buch der Erinnerung“ (1939), „Die zweite Fahrt“ (1946) und „Umgang der Jahre“ (1949) gehören wie die Nachkriegsbücher „Die Geburt Christi“ (1951), „Das inwendige Reich“ (1953) und „Der goldene Drachen“ (1957) zu den besten literarischen Werken ihrer Zeit. Als scharfer Gegner aller antichristlichen Bestrebungen der letzten dreihundert Jahre, wie sie besonders von Nietzsche, Spinoza und Rousseau vertreten wurden, stand Kassner in der Tradition Pascals und Kierkegaards. Sein „Gottmensch“ hatte mehr mit den Ideen Platons und der indischen Mystik als mit dem zuweilen schroff abgelehnten Christus der Bibel zu tun. Am 1. April 1959 starb Rudolf Kassner in Siders im Kanton Wallis. Erst kurz vor seinem Tode söhnte sich der ewige Gottsucher mit der Kirche aus.