In den Nestern vom vorigen Jahr wird man im jetzigen keine Vögel gewahr. Was von Enrico Caruso, dem wohl bedeutendsten Tenor der Operngeschichte, auf uns gekommen ist, sind Berichte, Legenden, eine Gesangslehre und alte Schellackplatten in erbärmlichem Zustand. Von 1902 bis 1920 hat Caruso um die 500 Titel aufgenommen, seine Weltkarriere ist von seiner Karriere als Schallplattenstar nicht zu trennen. Mit welchen Allgemeinplätzen auch immer wir Carusos Gestaltungskunst beizukommen suchen – hell und lyrisch, weich und samtig, betörend und sinnlich -, immer doch bleiben wir auf das verwiesen, was aus diesen Aufnahmen noch herauszuhören ist. Und das sei nicht genug, meinte der Wiener Dirigent Gottfried Rabl und ging mit einer Gruppe von Spezialisten beim ORF daran, die Stimme Enrico Carusos aus der Instrumental-, meist Klavierbegleitung herauszurechnen und tontechnisch aufzupolieren. Zu der entschlackten Kunststimme spielte Rabl mit dem Wiener Radio-Sinfonieorchester die Orchesterbegleitung neu ein. Für die erste Folge „Caruso 2000“ mit Opernarien konnte Rabl auf die originalen Partituren zurückgreifen. Für die zweite Folge „Caruso 2001 – Canzoni Italiane“ mit 17 der 22 traditionellen neapolitanischen Lieder, die Caruso überhaupt aufgenommen hat, mußte Rabl den vorhandenen Klaviersatz für Orchester – und natürlich für Caruso – neu arrangieren. Für die dritte und letzte Folge „Caruso – Great Opera Arias“ wurden neben Arien mit Orchesterbegleitung auch Arien ausgewählt, die Caruso nur mit Klavier eingespielt hat. Das Ergebnis ist merkwürdig: So oder ähnlich könnte die Stimme Carusos heute klingen, wenn Caruso heute aus dem Nebenzimmer sänge. Während sich dank computergestützter Technologien und dank der Fachleute, die damit künstlerisch umzugehen verstehen, ein Klavier relativ verlustfrei durch ein Orchester ersetzen läßt, halten sich bei dem Versuch, Stimme und Gesang Carusos zu rekonstruieren, Gewinn und Verlust die Waage. Was da nämlich weggefiltert wurde, ist mehr als nur störendes Beigeräusch! Denn nur, wer nicht bedenkt, daß der Analyse von Stimmfrequenzen und überhaupt tontechnischen Rekonstruktionstechniken immer bereits ein Moment von Interpretation innewohnt, möchte die digitale Aufnahme am Ende für authentischer halten als die alten verderbten Tonträger, über die Carusos Gesang auf uns gekommen ist. Carusos nachbearbeitete Stimme klingt sonderbar gedeckelt, bisweilen sogar genauso mittelmäßig, wie das auf treuliche Nachbegleitung vergatterte Orchester zwangsläufig mittelmäßig klingen muß. Und wenn es denn stimmt, daß Caruso seine Stimme intuitiv dem Orchesterklang anzupassen verstand, dann hätte er seine Stimme zur Orchesterbegleitung anders eingefärbt als zu der des Klaviers, und die Komponisten Umberto Giordano und Ruggiero Leoncavallo, welche den Tenor zu Arien aus ihren Opern höchstselbst am Klavier begleiteten, hätten als Orchesterdirigenten ihre Tempi wohl auch leicht variiert. Gottfried Rabl und sein Orchester vollziehen die Tempi Carusos nach, ohne daß dieser noch Gelegenheit hätte, sich auf ihre Tempi des Orchesters einzustelllen. Das aber ist der Tod jedes lebendigen Musizierens. Die Rekonstruktion von Carusos Gesang ergibt lediglich die Klangvorstellung, die jene von ihm haben, die ihn zu rekonstruieren versuchen. Das Wort „Caruso“ im Titel der CD ist also immer in Anführungszeichen zu denken. Lebte Caruso noch, würde er heute ganz anders singen. Das neue Nest ist mit Liebe bereitet, aber der Vogel ist lange tot. Caruso – Great Opera Arias. BMG Classics 74321 9865 1
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