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Diesseits der Zirbeldrüse

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Diesseits der Zirbeldrüse

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Originell, mutig und anmutig zugleich, das Unternehmen des gelehrten Berliner Poeten Durs Grünbein, dem rationalistischen Philosophen des siebzehnten Jahrhunderts René Descartes einen ausgewachsenen Roman in Versen (!) zu widmen, eine richtige Verserzählung im Stile von Goethes „Hermann und Dorothea“ oder Puschkins „Eugen Onegin“. Noch ist Deutschland nicht verloren! Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bringt das Poem sogar im Vorabdruck. Die einzelnen Kapitel lesen sich prächtig, provozieren freilich auch Widerspruch. Denn es wird darin viel Aufhebens gemacht um die angeblich „weltgeschichtliche Entdeckung“ Descartes‘, daß der Zweifel zwar alles anzweifeln könne, aber nicht das zweifelnde Ich selbst, ja, daß dieses Ich (als denkendes) durch den Zweifel erst erschaffen und ein für allemal unbezweifelbar gemacht werde. „Dubito, cogito, ergo sum“ – „ich zweifle, ich denke, also bin ich“. Diese „Entdeckung“ Descartes (die der hl. Augustinus bereits anderthalbtausend Jahre früher gemacht hatte) löst heute in Philosophenkreisen nur noch müdes Lächeln aus. Wieso kann das denkende Ich nicht selber bezweifelt werden? Es bereitet doch überhaupt keine Schwierigkeiten, sich einen Zweifler vorzustellen, der sich – gerade indem er an allem zweifelt, indem er alles in Frage stellt – um jeglichen Zugang zu Evidenzen und Notwendigkeiten bringt, darunter gerade auch Einsichten über den Zweifel als solchen. Der Satz „Ich zweifle an meinem Zweifel“ ist logisch einwandfrei und drückt die psychologische Gefahr, die hier lauert, präzise aus. Lege ich mich, indem ich zweifle, mental nicht völlig lahm, werfe ich mich damit nicht wie eine allzu ufernah hopsende Forelle aufs tödlich trockene Land? Und wieso darf ich vom Zweifel ohne weiteres auf ein Ego, auf das Ich im „sum“ (ergo sum) schließen? Wo ist denn da die Evidenz? Wenn ich schon an allem zweifle, weil eben darin das Wesen des Zweifels besteht, dann muß ich doch zunächst einmal an mir selbst zweifeln! Wieso bin ich es denn, der zweifelt? Ebenso kann es doch ein „Es“ sein, das in mir zweifelt, kann also der Zweifel gerade das Moment sein, welches mein Ich in Frage stellt. Augustinus hatte nur allzu recht, als er darauf hinwies, daß mir, damit ich zweifeln kann, gewisse Maßstäbe und ein bestimmter Vernunftbegriff einverseelt sein müssen. Für Descartes heißen diese (von ihm ungeprüft vorausgesetzten) Maßstäbe und dieser Vernunftbegriff „klar“, „distinkt“ und „Mathematik“. Noch bevor er sein „dubito, cogito, ergo sum“ hinausposaunt, „weiß“ er bereits, daß an der Klarheit und der Distinktion und an der Mathematik nicht gezweifelt werden kann, daß nur sie es sind, um die sich das Ich formiert. Angeblich dreht sich bei Descartes alles um die Selbstvergewisserung des Ich, aber bei Lichte betrachtet braucht er dieses Ich gar nicht, es ist für ihn ein Störfaktor, es muß dauernd zur Ordnung gerufen, diszipliniert, in Mathematik verwandelt werden. Nicht Selbstvergewisserung des Ich geschieht bei Descartes, sondern seine Unterwerfung unter das mathematisierende Kalkül der heraufkommenden konstruierenden Moderne. So wenig hielt Descartes vom Ich, daß er nicht einmal sein eigenes auch nur im geringsten wichtig nahm. Er ließ sich nicht von Ärzten behandeln, auch nicht, als er, vierundfünfzig Jahre alt, in Stockholm mit Erkältung zu Bette lag und leicht hätte gerettet werden können; lieber starb er. Und ähnlich verfuhr er mit seinen Werken. Wenn er glaubte, in einer Arbeit, in die er bereits unendlich viel Fleiß und Mühe investiert hatte, die angepeilte mathematische Reinheit nicht erreicht zu haben, vernichtete er sie ohne Rest und Komma. Der spektakulärste Fall war die Vernichtung eines umfangreichen Hauptwerks, wie er später nie wieder eines zustandegebracht hat, eines Buches mit dem Titel „mundus“, „Die Welt“, im Jahre 1633, als er schon 37 Jahre alt war und seine Jugendkräfte bereits schwinden fühlte. Natürlich hatte das auch etwas Großartiges, wie überhaupt manch großartiger Zug um diesen Denker aus der französischen Touraine ist. Aber als Hüter der Sprache und der geistigen Tradition war er die reine Fatalität. Er hat sich nicht einmal, wie die ihm sonst verwandten britischen Nominalisten des Mittelalters, Duns Scotus, William von Occam, für die logisch-grammatische Struktur der Sprache interessiert. Sprache war ihm nichts weiter als eine Verlautlichung mathema­tischer Formeln und Gleichungen. Descartes wollte keine Fragen wecken, sondern Antworten liefern, besser: Lösungen, mathematische Lösungen. Er wollte nicht schöpferische Unruhe stiften, sondern ruhigstellen, und zwar ein für allemal. Er versuchte, die Welt und das Leben in einen Kristall zu verwandeln, und diesen Kristall konnte er sich nur als strengste Hierarchie vorstellen, als ein System der Über- und Unterordnung, der Axiome und der Ableitungen. Descartes war der wohl allerwildeste Reduktionist in bezug auf biologische Vorgänge. Pflanzen und Tiere waren ihm lediglich mathematisch-mechanisch bewegte Maschinen; nie und nimmer können sie, meinte er, beispielweise Schmerz empfinden. Wenn man sie prügelt und sie schreien, so ist das so – genau das sagt dieser feine Gentleman René Descartes -, als ob eine ungeölte Tür in ihren An­geln quietscht. Was den Menschen betrifft, so gehört er nach Descartes zwei Welten an: der Körperwelt (res extensa) und der Geisteswelt (res cogitans). In der sogenannten Zirbeldrüse, die wir alle in unserem Gehirn haben, begegnen sich seiner Vorstellung nach Körperwelt und Geisteswelt, tauschen gewissermaßen ihre Infos aus. Er sagt es nicht ausdrücklich, aber man spürt doch deutlich, daß er es meint: „Mir, Descartes, wäre es lieber, wir hätten diese Zirbeldrüse nicht, wären reine, mit der res extensa unverbundene Geisterwesen, die weder Schmerzen noch fleischliche Begierden und Erfüllungen spüren könnten. Aber leider ist es nunmal nicht so.“ In dem Poem von Durs Grünbein bekommen wir einen Descartes gewissermaßen diesseits der Zirbeldrüse zu Gesicht, und der Dichter hat dafür wohlweislich den noch ganz jungen Denker ausgewählt, der seine Kavalierstour durch Europa absolviert und sich momentan, im Gefolge des Herzogs Maximilian von Bayern, auf einem Kriegszug durch Deutschland befindet. Das gibt Gelegenheit für manche körperlichen Abenteuer, aber es hat gerade heftig geschneit, und das schränkt die Abenteuer auch wieder beträchtlich ein. „Vom Schnee“, heißt Grünbeins Verserzählung vielsagend. Sie hätte auch heißen können: „Auf dem Weg vom Leben in die Mathematik“. Fotos: René Descartes (1596-1650), Durs Grünbein (geb. 1962): Mathematiker und Dichter begegnen sich nicht im Leben, sondern im Kristall

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